Völlig unerwartet sind Archäologen auf dem Gelände eines früheren deutschen Waisenhauses im Westen Jerusalems auf Überreste einer Weinpresse und eines römischen Badehauses gestossen. Die Ausgrabungen fanden im Vorfeld eines Beiprojekts statt.
«Damit zeigt sich erneut, dass sich in dieser Stadt mit ihrer glorreichen Vergangenheit Antikes findet, sobald man nur einen Stein umdreht», erklärte Grabungsleiter Alex Wiegmann am Mittwoch bei der erstmaligen Präsentation der Funde.
Diese wurden bei Notgrabungen im Vorfeld des Baus einer neuen Wohnsiedlung für ultraorthodoxe Juden im Stadtviertel Kerem Avraham entdeckt. Sie befinden sich auf dem Gelände des Waisenhauses mit Schulbetrieb, das der deutsche Lehrer und Missionar Johann Ludwig Schneller dort 1860 auf einem bewaldeten Hügel weit vor den Toren Jerusalems errichtete. Seine Söhne führten es bis 1940 weiter.
1600 Jahre alte Weinkellerei
Bei den archäologischen Ausgrabungen, die der geplanten Neubebauung des Gebiets routinemässig vorangehen, wurden jetzt die Anlagen einer grossen Weinkellerei entdeckt, die rund 1600 Jahre alt sind und aus römischer oder byzantinischer Zeit stammen.
Im Zentrum findet sich eine mit weissem Mosaik ausgelegte Fläche, auf der eine Schraubenpresse betrieben wurde. Sie ist umgeben von acht kleinen Räumen, die als Traubenlager oder zur Veredelung des Mosts genutzt wurden. Direkt neben der Presse fanden die Archäologen tönerne Röhren, wie sie zum Beheizen römischer Badehäuser genutzt wurden, sowie Ziegel mit Stempeln der Zehnten Römischen Legion.
Teil eines grösseren Herrenhauses?
Diese Legio X war bis etwa 300 nach Christus in Jerusalem stationiert und hatte ihr Hauptquartier etwa 800 Meter von dem späteren Schneller-Komplex entfernt. Die Archäologen vermuten nun, dass sich dort ein grösseres Herrenhaus befand, das auch nach den Römern weiter genutzt wurde.
Die britischen Kolonialherren hatten nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs das gesamte Areal der deutschen Missionare beschlagnahmt und richteten dort eine Militärbasis ein. Nach Gründung des Staates Israel wurden Gelände und Gebäude bis 2008 durch die israelische Armee genutzt und lagen seitdem brach.
Der international renommierte Schriftsteller Amos Oz wuchs unmittelbar neben dem Waisenhaus Schneller auf und hat dessen Geschichte in seinem autobiografischen Roman «Eine Geschichte von Liebe und Finsternis» ausführlich beschrieben.