Mit den ersten wärmenden Sonnenstrahlen zieht das Naherholungsgebiet Gübsensee die Leute in Scharen an. Dann ist beim Hof von Pius und Martina Rüegg manchmal fast kein Durchkommen mehr. Dafür floriert der Hofladen.
Wer hier lebt, muss Menschen mögen. Martina und Pius Rüegg tun es – zum Glück! Auf der Strasse zu ihrem Hof am Gübsensee herrscht Fahrverbot. Verkehr hat es trotzdem, und das nicht zu knapp. Auf die Velofahrer, die morgens zur Arbeit nach St. Gallen fahren, folgen walkende und joggende Hausfrauen, später Familienmenschen mit und ohne Kinderwagen, Hündeler, Rentner, Feierabendsportler und schliesslich die Nachtbuben, die mitunter solange bleiben, bis in den frühen Morgenstunden wieder der Berufsverkehr der Velofahrer einsetzt.
Im Naherholungsgebiet zwischen St. Gallen und Herisau ist rund um die Uhr und fast das ganze Jahr hindurch was los. „Selbst bei Schnee und Kälte nehmen einige Pickelharte den Weg nach St. Gallen mit dem Velo auf sich“, lacht Pius Rüegg. Viele sind das aber nicht. Im Winter kann man die Leute noch zählen, die vorbeikommen. Doch spätestens mit den ersten Sonnenstrahlen im Frühling hört das auf, dann sind die Leute scharenweise unterwegs. Er gibt zu: „Manchmal seufzen wir, wenn der Frühling naht.“ Doch dann schüttelt er den Kopf und lacht. Dass man an diesem Ort nie ganz allein ist, hat er schon gewusst, als er den Betrieb gepachtet hat. Rüegg ist hier oben gross geworden.
Ein Wachhund, der nicht bellt
Martina und Pius Rüegg haben vier Kinder im Alter zwischen 14 und 20 Jahren. Andrin, der Jüngste, wohnt noch daheim, die anderen sind entweder in der Lehre (Fabio), im Militär (Manuel) oder bereits ausgezogen (Seraina). Das Betriebsleiterpaar erledigt deshalb die meisten Arbeiten allein. Und Arbeit hat es genug: Tagtäglich sind 20 Milchkühe mit Aufzucht, 9 Appenzeller Geissen mit Gitzi, 500 Legehennen und 40 Mastsauen zu versorgen.
Nicht zu vergessen den Hofhund Sämi. Sämi ist der ideale Hund für diesen Hof: Er beobachtet nur und bellt so gut wie nie. Das wird von den Passanten geschätzt, wie Martina Rüegg erzählt: „Wenn er einmal nicht da ist, erkundigen sich die Leute nach ihm.“ Dass er Sämi heisst, weiss hier übrigens jedes Kind, es steht an der Hundehütte angeschrieben.
Serie "Stadtbauern"
Der LID stellt monatlich Bauernfamilien vor, die vor den Toren einer Stadt Landwirtschaft betreiben. Welches sind die damit verbunden Herausforderungen, wo liegen die Chancen der stadtnahen Lage? Bis jetzt sind erschienen:
- Biel: "Stadt und Land – auf dem Falbringenhof Biel eine Liebesgeschichte"
- Chur: "Mein Ziel ist ein friedliches Nebeneinander"
- Zürich: "Wasserbüffel begeistern Schulkinder"
Pius Rüegg war fünf Jahre alt, als sein Vater den Hof am Gübsensee in Pacht genommen hat. Damals gehörte der Betrieb noch den St. Galler-Appenzellischen Kraftwerken, SAK, später kam er in den Besitz der Stadt St. Gallen. Es ist ein reiner Pachtbetrieb. Das bedeutet, dass Rüeggs nach der Pensionierung den Ort vermutlich verlassen werden, an dem sie den grössten Teil des Lebens verbracht haben. Die schöne Landschaft werden sie dann wohl vermissen.
Die Leute kommen wegen der Landschaft
Das Gebiet des Gübsensees liegt am westlichen Stadtrand von St. Gallen und grenzt an den Kanton Appenzell Ausserrhoden. Die Landschaft ist abwechslungsreich, das Gebiet wurde ökologisch aufgewertet. Es gibt strukturreiche Wälder, Hecken, Magerwiesen, Einzelbäume und der Stausee zieht auch Wasservögel an. Die Menschen kommen also nicht ohne Grund hierher, viele kommen regelmässig. Sie sind für Rüeggs wie alte Bekannte und wenn einmal jemand längere Zeit nicht gesichtet wurde, fragen sie sich, wie es der Person wohl geht?
Dennoch ist es nicht immer leicht, dort zu arbeiten, wo andere sich erholen. Manchmal zehrt es an den Nerven. „Wenn wir am heuen sind und mit Heu zum Stall fahren müssen, ist auf der Strasse oft kein Durchkommen“, erzählt Martina Rüegg. Pius Rüegg nickt: „Früher sind die Leute zur Seite gestanden, wenn wir mit dem Traktor kamen. Heute ist das immer weniger der Fall.“ Er probiert es oft mit der Vorstellung, dass er woanders vielleicht am Rotlicht warten müsste. „Und wenn mich mal jemand vorbeilässt, grüsse ich übertrieben freundlich. Oft grüssen die Leute dann das nächste Mal zurück.“ Und manchmal machen sie dann gleich freiwillig Platz. Für Rüeggs ist klar: Die Leute kommen wegen der Landschaft, nicht wegen der Landwirtschaft. Das können sie verstehen.
Schulklassen zu Gast
Doch das Interesse an der Landwirtschaft ist ebenfalls da. Die offene Stalltüre wird bei Rüeggs rege benutzt. Die Menschen blicken gerne in den Stall oder schauen bei der Melkarbeit zu. Sie sind interessiert und stellen Fragen, suchen das Gespräch. Rüeggs antworten gerne, nur manchmal flüchtet Martina Rüegg aus dem Garten, weil sie sonst vor lauter Reden zu nichts mehr kommt. „Die Leute haben Freude, wenn sie sehen wie es wächst und gedeiht – aber sie können sich nicht immer vorstellen, dass ich auch noch arbeiten muss.“
Auch Schulklassen waren schon des öfteren auf dem Hof zu Gast. Einmal konnten Schulkinder zusehen wie ein Pony – es handelte sich um einen Hengst – Wasser lassen musste. Martina Rüegg erinnert sich noch ganz genau: „Da sagte ein Kind, läck, kommt da viel Milch raus!“
Nachtbuben werden immer jünger
Der Gübsensee ist ein Stausee. Zum Baden ist er nicht ideal, aber als Kulisse für eine Grillparty eignet er sich bestens. Diese Parties ufern mitunter aus. „Früher kamen nachts ab zwei Uhr vor allem Partygänger, die nach Beizenschluss noch ein wenig verlängern wollten. Heute feiern hier in erster Linie Jugendliche.“ Oft sind sie erst 14 Jahre alt, also in einem Alter, in dem sie weder Mass, noch Grenzen kennen und viel Lärm und Abfall verursachen. Die Stadt liess eine Abfallsammelstelle mit Toilette bauen. „Als die Arbeiter das Bauholz für die Toiletten- und Abfallanlage übers Wochenende vor Ort gelagert haben, konnten sie selbst erleben, wie das hier zugeht.“ Das Bauholz ging in Rauch auf, bevor auch nur ein Nagel eingeschlagen worden war. Seither scheint die Stadt Rüeggs Klagen, dass ständig Brennholz gestohlen wird, ernster zu nehmen.
Wengistens haben die Abfallsammelstelle und die Toiletten ihre Wirkung auf das Pärkli nicht verfehlt. Es ist sauberer und auch ein wenig ruhiger geworden. Pius Rüegg: „Wir sind positiv überrascht und hoffen, dass es so bleibt.“ So wie damals, als Anfang der 1980er-Jahre die Robidogs aufkamen. Seither ist der Hundekot auf den Wiesen kein grosses Problem mehr. Einzig, dass die Hunde im Spiel manchmal viel Gras niedertrampeln, welches eigentlich als Futter fürs Vieh gedacht war, hat sich nicht geändert.
Dank Hoflädeli nicht auswärts arbeiten
Die Nähe zur Stadt reizt Rüeggs nicht, dieser öfter einen Besuch abzustatten. „Wozu sollten wir in die Stadt? Die Stadt kommt ja zu uns!“ Pius Rüegg lacht. Dank der Gespräche mit den Passanten ist er immer bestens informiert. Und die hohe Besucherfrequenz hat auch einen Vorteil: Das Hoflädeli floriert. Das ist gar nicht so selbstverständlich, weil hier oben „alles weggetragen und nicht mit dem Auto weggefahren wird“, wie Martina Rüegg betont.
Trotzdem sind die Kuchen, Brote und Zöpfe sehr begehrt, ebenso die selbstgemachte Konfi, die Eier von den hofeigenen Hennen, der Käse von der hofeigenen Milch und das Obst, welches Rüeggs von anderen Bauern zukaufen. Eine Zeitlang hat Martina Rüegg täglich Kuchen und Brot gebacken. Irgendwann wurde ihr das neben der Hofarbeit zu viel. „Nun backe ich nur noch am Wochenende.“ So arbeitsintensiv das Lädeli ist, es bringt auch etwas ein: „Wenn wir das Lädeli nicht hätten, müsste jemand von uns auswärts arbeiten gehen.“ Die Zahlungsmoral ist gut, am Gübsensee kennt man einander. Dank dem Lädeli kann die ganze Familie vom 20 Hektar grossen Hof leben. Und wenn einmal nicht ganz so viele Leute unterwegs sind, können sie die schöne Aussicht auf die Stadt, die Berge und die Natur vor ihrer Haustüre auch mal für sich geniessen.