«Ernährungsinitiative verkennt Realität»

Der Nationalrat hat am Mittwoch eine Grundsatzdebatte über die Landwirtschaftspolitik geführt. Er nahm seine Beratungen über die Ernährungsinitiative auf. Das Volksbegehren dürfte es im Parlament schwer haben: Alle Fraktionen sprachen sich dagegen aus.

blu/sda |

Entscheide zur Initiative mit dem offiziellen Titel «Für eine sichere Ernährung – durch Stärkung einer nachhaltigen inländischen Produktion, mehr pflanzliche Lebensmittel und sauberes Trinkwasser» fällte die grosse Kammer noch keine.

Netto-Selbstversorgungsgrad von 70%

Am 16. August 2024 wurde die sogenannte «Ernährungsinitiative» eingereicht. Sie sieht die Stärkung der Selbstversorgung, die Sicherung der Grundwasserressourcen sowie die Förderung einer nachhaltigen Land- und Ernährungswirtschaft vor und verlangt unter anderem, dass die Land- und Ernährungswirtschaft vermehrt auf die Produktion und den Konsum von pflanzlichen statt tierischen Lebensmitteln ausgerichtet wird. Die Ernährungssicherheit soll durch eine Steigerung des Netto-Selbstversorgungsgrads von 42 Prozent (2024)  auf mindestens 70 Prozent erhöht werden. Der Nettoselbstversorgungsgrad setzt sich zusammen nach Abzug der Korrektur für importierte Futtermittel, die an die hiesigen Nutztiere verfüttert werden.

->  Nettoselbstversorgungsgrad sinkt 2024 auf 42 Prozent

Weiter fordert die Initiative die Sicherstellung von genügend sauberem Trinkwasser, der Biodiversität und der Bodenfruchtbarkeit. Die in den Umweltzielen Landwirtschaft festgelegten Höchstwerte für Dünger- bzw. Nährstoffeinträge in die Umwelt dürfen nicht mehr überschritten werden. Das Ziel soll in zehn Jahren erreicht werden. Hinter der Initiative stehen Franziska Herren vom Verein «Sauberes Wasser für alle» sowie sechs weitere Personen. Herren war bereits treibende Kraft der 2021 an der Urne abgelehnten Trinkwasserinitiative.

Bundesrat dagegen

Der Bundesrat ist gegen die Initiative. Die Wirtschaftskommission des Nationalrats beantragt mit 23 Stimmen und zwei Enthaltungen, aber ohne Gegenstimme ein Nein. Sowohl die Landesregierung als auch die vorberatende Kommission wenden ein, die Initiative könne nur mit tiefen Eingriffen in die Produktion und den Konsum von Lebensmitteln erreicht werden. Die Wahlfreiheit würde drastisch eingeschränkt. Um das Ziel zu erreichen, müsse die Produktion und der Konsum von Fleisch stark reduziert und die pflanzliche Produktion zur menschlichen Ernährung stark ausgeweitet werden. «Dies wäre nur möglich, wenn der Staat massiv in die Produktion und in den Konsum von Lebensmitteln eingreifen würde», sagte Bundesrat Guy Parmelin im August 2025.

Die Tierbestände müssten bei einem Ja zur Initiative um fast die Hälfte verkleinert werden, führte er damals aus. Betroffen wären vor allem Schweine und Geflügel.

-> «Nicht realistisch»: Bundesrat lehnt Ernährungsinitiative ab

«Neue Anbauschlacht»

Auch im Ratsplenum gab es kaum Unterstützung für das Volksbegehren. Den geforderten Selbstversorgungsgrad habe die Schweiz selbst zur Zeit der Anbauschlacht im Zweiten Weltkrieg nicht vollständig erreicht, sagte Olivier Feller (FDP/VD) namens der vorberatenden Kommission. Es sei fraglich, ob die Bevölkerung zu den damaligen Opfern bereit sei. Damals habe man Parkflächen und Sportplätze umgegraben.

Martin Hübscher (SVP/ZH) kritisierte, die Umsetzung der Initiative ginge auf Kosten der Biodiversitätsflächen. «Eine neue Anbauschlacht wäre erforderlich. Dabei würden vermutlich als Erstes die 190’000 Hektar Biodiversitätsförderflächen wieder der Produktion zugeführt, was kaum im Sinne der Initianten sein dürfte. Höhere Lebensmittelpreise und eine Zunahme des Einkaufstourismus, der bei der Berechnung des Nettoselbstversorgungsgrades vollständig unberücksichtigt bleibt, wären die Folgen», warnte der Kommissionssprecher. Die Initiative stelle die Grünlandbewirtschaftung infrage. «Heute können wir 70 Prozent unserer gesamten Fläche landwirtschaftlich bewirtschaften. Das Grasland sinnvoll bewirtschaften, das kann eigentlich nur der Wiederkäuer», führte Hübscher aus.

Entschädigungspflicht durch den Bund

Markus Ritter (Mitte/SG) erinnerte daran, dass es in der Schweiz heute weniger Kulturland gebe als während des Zweiten Weltkriegs. «Während des Zweiten Weltkriegs hatten wir in der Schweiz eine Bevölkerung von rund vier Millionen Personen. Seit dem Zweiten Weltkrieg wurden rund 250’000 Hektaren Kulturland verbaut. Wir haben heute in der Schweiz noch rund eine Million Hektar Kulturland für unsere Ernährung zur Verfügung», sagte Ritter. Während des Weltkriegs seien Lebensmittelzudem rationiert gewesen.

Um die Ziele der Initiative zu erreichen, müsste man den Konsum von Milchprodukten, Eiern und Fleisch drastisch einschränken. «Ribelmais, Griessmus und Haferbrei kämen wieder auf unsere Tische», sagte der Mitte-Fraktionssprecher und Präsident des Schweizerischen Bauernverbandes. Viele Konsumentinnen würden sich ein solches Regime in einem freiheitlichen Land nicht bieten lassen, machte Ritter deutlich.

Ritter machte ausser dem auf die  Entschädigungspflicht durch den Bund aufmerksam. Die Initiative sehe eine Übergangsfrist von zehn Jahren vor. «Mit der radikalen Umstellung auf pflanzliche Kost würden sehr viele Investitionen im Bereich der Tierhaltung, auf den Verarbeitungsbetrieben und auch im Handel entwertet». warnte er. Eine ordentliche Amortisation der Investitionen wäre nicht mehr möglich. «Das wäre durch den Bund zu entschädigen», führte er weiter aus. Und um die über neun Millionen Einwohnerinnen und Einwohner der Schweiz ernähren zu können, müsse man vor allem in Talgebiet Biodiversitätsflächen reduzieren.

Nur dank Nutztiere produktiv

Die Initiative verkenne die Realität in der Landwirtschaft, sagte SVP-Fraktionssprecherin Katja Riem (BE): «Wir leben in einem Land, in dem grosse Teile der Flächen nur dank tierischer Nutzung produktiv sind. Es geht hier um einen Verfassungsartikel, der wahrscheinlich in einem klimatisierten Büro und ohne Kenntnisse der Märkte geschrieben wurde und davon ausgeht, dass Höfe, Tiere, Landschaft und Tradition, aber auch Innovation bloss Variablen in einer Gleichung seien.»

Grosse Teile der hiesigen Flächen könnten dank Nutztierhaltung produktiv genutzt. Riem meint damit Weiden, Alpen, steile Lagen und Orte, an denen kein Getreide gedeiht. «Hier funktioniert seit Jahrhunderten ein fein austariertes System. Nicht nur in den höheren Lagen ist das gang und gäbe, auch Betriebe im Mittelland, welche einen Kreislauf zwischen Produktion und Nährstoffen herstellen und diesen seit Jahren pflegen, tragen zu dieser Ressourcenbalance bei. Für die Schweizer Landwirtschaft ist es eine Selbstverständlichkeit, dazu Sorge zu tragen», sagte die Agronomin.

Daniela Schneeberger (FDP/BL) sagte im Namen der freisinnigen Fraktion, die Initiative wolle eine vegane Ernährung forcieren. Das Volksbegehren sei unsozial, da höhere Lebensmittelpreise besonders Haushalte mit geringem Einkommen träfen. Und die Freisinnige kritisierte den Eingriff in die persönliche Lebensweise. «Die Initiative tut so, als gehe es um Förderung pflanzlicher Produkte. Letztlich aber will sie Folgendes: Der Staat lenkt die Produktion und damit den Konsum von tierischen Produkten um», sagte Schneeberger.

«Bürgerliche brechen Versprechen»

Auch aus dem linken Lager gab es Kritik. Eine Mehrheit ihrer Fraktion werde das Volksbegehren ablehnen, kündigte Sophie Michaud Gigon (Grüne/VD) an. Die Initiative werfe berechtigte Fragen auf, sagte sie. Die Forderungen der Initiative seien aber für ein kleines Land wie die Schweiz unrealistisch. Die volkswirtschaftlichen Kosten wären gewaltig.

Ein Selbstversorgungsgrad von 70 Prozent sei unrealistisch und die Umsetzungsfrist von zehn Jahren zu kurz, befand auch Jacqueline Badran (SP/ZH). Abgesehen von diesen Elementen sei die Initiative aber inhaltlich richtig. «Deshalb haben wir den Gegenvorschlag gezimmert, der die beiden Elemente, die unrealistisch sind, weglässt, die Ziele aber beibehält», so die Zürcherin.  Wer könne gegen die Ziele des Gegenvorschlags sein, dass die landwirtschaftlich genutzten Ökosysteme in ihrer Vielfalt und Leistungsfähigkeit erhalten bleiben und die Biodiversität gefördert werden kann, fragte sie sich.

Badran warf der bürgerlichen Mehrheit vor, die im Abstimmungskampf zur Trinkwasserinitiative gemachten Versprechen zu brechen. «Die Aufhebung des Mindestanteils an Biodiversitätsförderflächen - völlig ohne Not sowie die Senkung des Reduktionsziels für Nährstoffverluste von 25 auf 15 Prozent für Stickstoff», so Badran. Sie warnte vor irreversiblen Schäden für Trinkwasser und Biodiversität.

Warnung vor Protektionismus

Auch die Grünliberalen unterstrichen, die Frage der nachhaltigen Nutzung von Böden und Trinkwasser sei wichtig. Céline Weber (GLP/VD) warnte aber vor Protektionismus. «Die Schweiz ist keine Insel». Steigende Lebensmittelpreise würden dem Einkaufstourismus Vorschub leisten.

Auch Kathrin Bertschy (GLP/BE) sprach sich gegen die Initiative aus: «Eine so rasche Umstellung der Produktion braucht massive Unterstützung. Und der Generationenwechsel in der Landwirtschaft steht zwar bevor, er braucht aber etwas mehr Zeit.» Wie Badran machte sie sich für den Gegenvorschlag stark. «Die Beseitigung der Fehlanreize und die Herstellung der Kostenwahrheit ist auch für die Bauern unumgänglich, um ihre Wirtschaftsgrundlagen zu schützen. Es ist eine absolut liberale Politik, wenn wir das machen», sagte die Bernerin. Die Bevölkerung zahle jährlich 3,6 Milliarden Franken in Treu und Glauben, dass die Gesetze, die Umweltziele umgesetzt werden. 

Sie holte nicht noch zu einem Schlag gegen die vorgerlagerten Betriebe aus. «Es ist die Agrarlobby der vorgelagerten Industrien, die ein Interesse daran hat, dass das nicht geändert wird; denn diese profitieren, wenn Maschinen, Futtermittel und Pestizide importiert werden», sagte sie. Es gäbe eine Lösung zur Steigerung des Selbstversorgungsgrads. «Wenn nämlich weniger Futtermittel importiert und die tierische Produktion gesenkt würde. Die Initiative ist also ein Versuch, die Agrarlobby mit den eigenen Waffen zu schlagen», hielt Bertschy fest.

«Kulturlandschaften verschwinden»

Verschiedene Rednerinnen und Redner warnten zudem vor einem Verlust von Arbeitsplätzen insbesondere in der Nahrungsmittelindustrie, bei Käsereien und Metzgereien. Nationalrat Andreas Meier (Mitte/AG) kritisierte in seiner Rede das ökologischen Versprechen. «Ohne Nutztiere brechen Nährstoffkreisläufe zusammen. Hofdünger fehlt, Böden verarmen. In Bergregionen führt der Abbau der Tierhaltung zu Verbuschung und Verwaldung. Wertvolle Kulturlandschaften verschwinden, die Biodiversität nimmt genau dort ab, wo sie heute besonders hoch ist», sagte er.

Zentrale Anliegen wie Versorgungssicherheit, ökologische Nachhaltigkeit, standortgerechte Produktion und Innovationsförderung seien Bestandteil der Agrarpolitik 2030. «Die Initiative addiert keinen Mehrwert, sondern ersetzt bewährte Instrumente durch ideologische Vorgaben und ist somit überflüssig», stellte Meier klar.

Entscheid über Gegenvorschlag

Die Debatte wird am 17. Dezember fortgesetzt. Zu entscheiden haben wird der Nationalrat dann auch, ob er der Initiative einen Gegenvorschlag entgegenstellt.

Eine rot-grüne Minderheit der vorberatenden Nationalratskommission schlägt einen alternativen Verfassungsartikel vor. Dieser beschränkt sich auf die Erhaltung der Ökosysteme und der Biodiversität sowie den Schutz von Gewässerqualität, Bodenfruchtbarkeit und Biodiversität. Nebst Grünen und SP sprach sich am Mittwoch im Rat auch die GLP dafür aus.

Der Bundesrat will keinen Gegenvorschlag – weder auf Verfassungs- noch auf Gesetzesstufe. Er vertritt die Ansicht, die heutigen Verfassungsgrundlagen für eine Entwicklung der Agrarpolitik in die verlangte Richtung genügten.

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