Was der Röstigraben für die Romandie und die Deutschschweiz ist, ist der Monte Ceneri für die Tessinerinnen und Tessiner. Er teilt den Kanton in Sopra- und Sottoceneri – und das nicht nur geografisch. So mache ich mich als «Sopracenerina» von Tenero aus auf den Weg ins Sottoceneri in den Alto Malcantone, um mehr über unsere geliebte «Castégna», wie sie im Tessiner Dialekt genannt wird, zu erfahren.
Kaum aus dem Postauto in Arosio ausgestiegen, schaue ich auf einen herrschaftlichen Palazzo und mache mich ich auf zur Kirche San Michele. Dort begegne ich dem Kastanienbaum in Form der Haupteingangstür zum ersten und im Wappen der Gemeinde Alto Malcantone als Kastanienblatt gleich zum zweiten Mal. Einmal rund um die Kirche zu gehen, lohnt sich, denn auf der Rückseite der Kirche befindet sich eine Sonnenuhr von 1664.
Auf Schritt und Tritt der Kastanie folgen
Da ich auf 30 Grad und nicht auf Regen eingestellt war, bin ich kurz unter einem Dach untergestanden, als ein kurzer Platzregen die Luft etwas erfrischte. Darüber sehr glücklich habe ich den Rundgang unter die Füsse genommen. Vom «Sentiero del Castagno» abzukommen ist fast unmöglich: Er ist mit gelben Wegweisern mit einer aufgedruckten Kastanie sehr gut gekennzeichnet. Kurz nach Arosio war ich allein in den Kastanien- und Birkenwäldern unterwegs. Es ging immer wieder rauf und runter mit wunderschönem Blick auf die Dörfer Arosio, Breno, Fescoggia, Mugena und Vezio, den Monte Tamaro und die hügelige Landschaft.Die erste Thementafel macht auf die natürlichen Feinde der Kastanienhaine aufmerksam. Nebst dem Kastanienkrebs, der Tintenkrankheit, der Esskastanien-Gallwespe, dem Esskastanienbohrer und dem Kastanienwickler ist das Feuer die grösste Gefahr für den Kastanienwald. So hat die Gemeinde Alto Malcantone ein Löschbecken eingerichtet, das die Löscharbeiten bei einem allfälligen Brand vereinfachen.

Blick zurück auf Vezio ganz unten, Mugena und Arosio hinten.
Daniela Carrera
Vom Blatt bis zur Frucht
Von den Römern vor über 2’000 Jahren von der Türkei in die Schweiz gebracht, garantierte die Kastanie über Jahrhunderte das Überleben der Tessiner und Südbündner Bevölkerung. Vom Kastanienbaum wurde aus der Not heraus, ähnlich wie bei «modernen» Konzepten wie «Nose to Tail» oder «Leaf to Root», alles verwendet, verarbeitet und gegessen, was die Pflanze hergab. Die Kastanien wurden getrocknet und zu Mehl verarbeitet, damit es gut gelagert und das ganze Jahr hindurch gegessen werden konnte. Das Holz wurde zum Heizen, Kochen und für Möbel verwendet, die Blätter dienten als Streu für die Tiere und wie in meiner Familie erzählt wird, auch für Menschen als Inhalt von Kissen und Betten. So wurden die Blätter gesammelt, lagen nicht im Wald herum und alimentierten nicht allfällige Feuer. Ein «sauberer» Wald ohne trockene Blätter war und ist eine Versicherung und Prophylaxe gegen Waldbrände.

Früher wurde alles vom Kastanienbaum genutzt: Blatt, Holz und Frucht.
Fructus
Dekadenz und Wiedergeburt
Holzkohle wurde jahrhundertelang aus Kastanienholz gewonnen und nach Mailand verkauft. Die im Kastanienholz enthaltene Gerbsäure war bis zu den 1950er-Jahre eine wichtige Einnahmequelle. Die intensive Nutzung sowie das Aufkommen von billigeren Methoden zur Gewinnung von Gerbsäure und der Kastanienrindkrebs trugen zum Zerfall der Kastanienkultur bei. In der Nachkriegszeit verbreitete sich zudem der Reis und löste die Kastanie als Hauptnahrungsmittel ab. In der Folge wurden die Kastanienselven vernachlässigt und sich selbst überlassen. Die Kastanien und die Blätter wurden nicht mehr gesammelt und blieben auf dem Boden liegen.
In den 1990er-Jahren spannten in diversen Tessiner und Bündner Regionen Organisationen und engagierte Personen zusammen, um die Kastanienselven zu pflegen, den Unterwald von Holzresten zu befreien, um so wieder mehr Platz für Weiden zu haben. Im Gegensatz zu einem geschlossenen Wald bietet eine offene und gepflegte Selve vielen Tieren und Pflanzen Nischen und Lebensräume. Mit diesem Revival der Kastanie wurde auch die Tradition des Kastanientrocknens wieder aufgenommen. So sammeln Einheimische und Schulklassen im Herbst Kastanien – rund 40 Tonnen jährlich – und bringen sie zum Trocknen in eine Grà.
Grà – die Räucherei für Kastanien
Um die Kastanien länger haltbar zu machen, werden die Kastanien zuerst neun Tage gewässert. Dadurch schwimmen die faulen und mit Würmen befallenen, leichteren Kastanien oben auf und allfällige Bakterien und Schimmel werden zerstört. Anschliessend werden die ganzen Kastanien in einem zweistöckigen Steinhaus – der Grà – getrocknet. Die Kastanien werden im zweiten Stock auf ein Gitter verteilt und im unteren Stock brennt das Feuer. Wenn nach zirka drei Wochen die Kastanien trocken sind, werden sie in Stoffbeutel gegen Stein geschlagen, sodass sich die Schale von der trockenen Frucht trennt.
Die Kastanien werden heute getrocknet und als Mehl, im Joghurt, als Vermicelles oder zu Kuchen oder Glacé verarbeitet im Tessin erfolgreich vermarktet. Ein Nebenprodukt der Kastanienblüten ist der leicht bittere, bernsteinfarbige Kastanienhonig, den ich als Heimwehtessinerin, allen anderen bevorzuge.
Arrivederci
Die Grà auf dem Kastanienweg brannte 2023 nieder und wird wieder aufgebaut. Gerne würde ich sie im Herbst im Einsatz sehen und einer kürzeren Variante des Kastanienwegs folgen. Denn die letzten drei Kilometer von Vezio bis nach Arosio waren alle auf Asphalt und diese schenke ich mir nächstes Mal gerne. Wer es noch kürzer mag, empfehle ich eine Rundwanderung von Vezio nach Vezio: die Wanderung ist sehr abwechslungsreich mit Stücken im Wald und auf Wiesen, mit Blick auf die Dörfer Arosio, Fescoggia, Mugena und Vezio. Auch begegnet man den meisten Thementafel, der Grà und dem aufgeschichteten Köhlerhaufen. Wer nicht bis ins Sottoceneri reisen möchte, kann in Moghegno die Grà besichtigen und in den Kastanienwäldern des Sopraceneri wandern. Dort stehen die Bäume jedoch dichter beisammen und sind weniger alt und ehrwürdig als auf dem «Sentiero del Castagno». So war es die Mühe wert an einem heissen Sommertag zu früher Stunde den Monte Ceneri zu überwinden, um durch die kühlen Kastanienselven zu wandern.
Der «Sentiero del Castagno» lohnt sich
- für alle, die mehr über die Edelkastanie und die Kastanienbäume erfahren und in gepflegten Selven wandern wollen.für Schulklassen.
- für Familien.für Wanderinnen und Wanderer, die eine abwechslungsreiche Wanderung im Wald, über Wiesen und den Flüssen entlang mit Sicht auf typische Tessiner Dörfer lieben.
- für Kulturinteressierte mit den historisch interessanten Gebäuden wie die Kirche San Michele in Arosio, die Grà in Vezio oder die Sonnenuhr von 1646.im September und Oktober für alle, die Kastanien sammeln.
- für Tessinerinnen und Tessiner sowie Heimwehtessinerinnen und Heimwehtessiner.
-> Informationen zur Wanderung und zum «Sentiero del Castagno» gibt es auf der Website des Tessiner Tourismusverbands .
Die Kastanie ist im Tessin ein Symbol für Reichtum und hat die Bevölkerung über Jahrhunderte hinweg ernährt. Wer mehr über den Brotbaum und die Tessiner Kastanien erfahren möchte, tut dies am besten auf einem der fünf Wanderwege, auf denen die Kastanie Königin ist .


