Im südlichen Niedersachsen haben viele Milchproduzenten aufgegeben. Nicht so die Familie Ilse: Sie hat stattdessen modernisiert und blickt optimistisch in die Zukunft.
Das Göttinger Land, ein Landstrich im Süden Niedersachsens. Die vielschichtige Landschaft mit Wald, Wiesen und Feldern, Bergen und Flusstälern bringt vielschichtige Betriebe hervor: Hoch mechanisierte Ackerbaubetriebe bis zu 1'000 Hektar mit grossen Getreide-, Raps- und Rübenfeldern in den fruchtbaren Flussauen.
Biobetriebe, die im Speckgürtel von Göttingen besonders naturschonend wirtschaften und die Produkte über Markstände an die Kunden verkaufen. Nebenerwerbslandwirte, die nach Feierabend die Landwirtschaftsfläche bewirtschaften – sei es aus Hobby oder aus Tradition. Und Milchviehhalter, die teils noch in Altbetrieben wirtschaften oder moderne Milchvieh-Höfe, die in einen Boxenlaufstall investiert haben.
Christian Ilse führt solch einen Betrieb. Der 35-Jährige hat 2009 einen Boxenlaufstall für 120 Kühe am Rande des Dorfes Jühnde errichtet. Der Ort war 2005 als weltweit erstes Bioenergiedorf in den Schlagzeilen der Republik. Auch Ilse ist Mitglied der Genossenschaft, die diese Biogasanlage betreibt – und liefert als Landwirt Mist sowie 3'500 Kubikmeter Gülle an die Anlage. Dafür bekommt er am Ende des Fermentationsprozesses 1'200 Kubikmeter Gärrest zurück. Den Rest vermarktet er an Kollegen.
Gemischte Betriebe verschwunden
Wie anderswo in Deutschland hat sich auch im Landkreis Göttingen die Landwirtschaft in den vergangenen Jahrzehnten radikal gewandelt. Landwirte schliessen sich zusammen und bilden Betriebs- oder Maschinengemeinschaften, um wettbewerbsfähig zu sein. Die typischen gemischten Bauernhöfe mit Ackerbau, Milchvieh, Schweine-, Schaf- und Geflügelhaltung sind weitestgehend verschwunden oder werden im Nebenerwerb betrieben. Aus ihnen sind Landwirtschaftsbetriebe geworden – insgesamt im Göttinger Land noch knapp 800 an der Zahl und mit zusammen 57'000 Hektar Fläche – die sich auf eine oder wenige Produktionsrichtungen spezialisiert haben. Je nach örtlicher Voraussetzung und Neigung fokussiert sich der Landwirt auf Ackerbau, Milchwirtschaft oder Schweinemast.
Christian Ilse, der den Hof 2005 von seinem Vater übernommen hat, konzentriert sich auf Milchwirtschaft. Das Ackerland hat er 2007 in eine Betriebsgemeinschaft eingebracht, die mit fünf Gesellschaftern zusammen 900 Hektar bewirtschaftet. Rund 250 bis 300 Stunden arbeitet Christian Ilse pro Jahr in dieser Kooperation, vor allem bei der Getreidelogistik und beim Ausbringen von Gärresten aus der Biogasanlage. 50 Hektar eigenes Land und Pachtland hat der junge Landwirt in seinem Betrieb belassen. Mit durchschnittlich drei Schnitten Gras, dazu der Silomais von den Flächen der Betriebsgemeinschaft, reicht das aus, um die derzeit 120 melkenden Kühe sowie noch einmal ebenso viel Nachzucht zu versorgen.
Wachsen oder weichen
Mit der zunehmenden Rationalisierung in der Landwirtschaft vor 40 Jahren, dem immer stärker werdenden Einfluss der damaligen Europäischen Gemeinschaft auf die Agrarpolitik und den daraus folgenden Umstrukturierungen stellte sich für viele Milchbauern die Frage: Wachsen oder weichen? Die meisten in Südniedersachsen wichen. Hier und da wurde noch mal mit Unterstützung von Programmen wie "Althofsanierung" in einen modernen Stall investiert, aber das konnte den Trend nicht stoppen. Allein von 1965 bis zum Jahr 2000 sank die Anzahl der Milchviehhalter im Landkreis Göttingen von 3'919 auf 200 Betriebe, im gleichen Zeitraum sank die Anzahl der Milchkühe im Landkreis von über 20'000 auf 8'500 – und heute sind es noch 6'300. Die verbliebenen Betriebe wurden dafür grösser: Der Durchschnittsbestand an Kühen stieg in im Zeitraum bis 2000 von 5 auf 31 Kühe an. cm
Keine regionalen Molkereien mehr
Milchviehbetriebe sind selten geworden im Süden Niedersachsens. Infolge des Strukturwandels hängten viele Bauern ihren Beruf an den Nagel und arbeiten heute in anderen Branchen. So hielten beispielsweise im Landkreis Göttingen noch im Jahr 1965 zwanzig Mal mehr Bauern Milchkühe als heute, ganze Dörfer sind mittlerweile ohne Milchvieh. Damit ging der Region auch die Infrastruktur und die Weiterverarbeitung verloren: Die Göttinger Molkerei schloss ihre Pforten, die Milch von Ilses Hof muss heute lange Strecken bis in die DMK-Molkereien nach Nordhessen oder Thüringen zurücklegen. In vielen Dörfern der Region droht besonders das Grünland in den Hanglagen zu verbuschen.
Mit dem Milchpreis ist Ilse derzeit zufrieden. Doch es gab auch schon schlechtere Zeiten. Von 2006 bis 2009 etwa erhielt er deutlich unter 30 Cent. "Unter Berücksichtigung aller Kosten reicht das nicht, um betriebswirtschaftlich nachhaltig Milch zu produzieren", sagt der junge Betriebsleiter. Die schwachen Marktphasen habe er überbrücken können, weil er seine eigenen Stunden nicht mitgerechnet habe und im Betrieb noch tatkräftige Unterstützung von seinen Eltern Heide (58) und Ewald (60) bekam.
Doch das ist Vergangenheit. Die Eltern stehen heute nicht mehr häufig im Melkstand, Christian Ilse melkt zumeist gemeinsam mit seiner Frau Mirja (38), die sich als promovierte Tierärztin auch um die Gesundheit des Bestandes kümmert. Gemeinsam hat das Landwirtspaar zwei Söhne: Florentin (2) und Valentin (5). Gemeinsam lebt die Familie mit drei Generationen unter einem Dach auf der alten Hofstelle im Ortskern.
Preise in Deutschland
Produzentenpreis für Milch: 37 Cent pro Kilo (45,3 Rp.) (Durchschnitt 2013)
1 Liter Milch im Supermarkt: 65 Cent bis 1,15 Euro (80 Rp. bis 1,40 Fr.)
1 Kilo Brot im Supermarkt: 2,25 Euro (2,75 Fr.)
1 Ei im Supermarkt: 15 - 23 Cent (18 bis 28 Rp.)
Investition in neuen Laufstall
Vor vier Jahren hat Ilse kräftig investiert und einen neuen, hellen und luftigen Stall am Ortsrand gebaut: "Wir haben das gemacht, weil wir in unserem alten Stall die arbeitswirtschaftliche Situation schlecht war. Wir hätten sonst nur noch die Alternative gehabt, die Milchviehhaltung komplett auslaufen zu lassen." Statt in Anbindehaltung leben die Kühe jetzt in einem Boxenlaufstall mit viel Auslauf auf den angrenzenden Weiden. Investiert habe er, weil er langfristig an die Zukunft der Milcherzeugung in der Region glaube. "Aber wir müssen uns künftig immer mehr auf den Markt einstellen, auf Phasen mit höheren und niedrigeren Preisen."
Nach Angaben des örtlichen Bauernverbandes "Landvolk Göttingen" geht der Strukturwandel, der mit der zunehmenden Spezialisierung der landwirtschaftlichen Betriebe seit den 60er Jahren begann, kontinuierlich weiter. Die Milchproduktion wanderte vor allem aus Südniedersachsen in die Grünlandregionen Nordwestdeutschlands ab. Laut der Landwirtschaftskammer Niedersachsen gab es 2009 im Landkreis Göttingen nur noch 141 Milchviehhalter mit zusammen 6'300 Kühen. 1965 waren es noch 3'919 Betriebe mit 20'000 Kühen gewesen (siehe obersten Kasten).
Optimismus herrscht vor
Die Milchviehhaltung ist aus einigen Teilen der Region vollständig verschwunden und konzentriert sich wiederum in anderen Dörfern wie etwa in Jühnde: 450 Milchkühe kommen hier auf 770 Einwohner. Doch es wird mittlerweile auch wieder kräftig investiert. Im Radius von 30 Kilometern entstehen derzeit gleich zwei als Betriebsgemeinschaften geführte Milchviehställe für 600 melkende Kühe sowie angeschlossener Biogasanlage.
Auch Ilse glaubt an die Zukunft der Milchproduktion und ist optimistisch. Mit 9'800 Liter Milch pro Kuh bei 3,3 Prozent Eiweiss und vier Prozent Fett ist Ilse mit der Leistung seiner Holstein-Frisian-Herde zufrieden. Die durchschnittliche Lebensleistung liegt bei 30'000 Litern, die Kühe bleiben im Schnitt 5,6 Jahre auf dem Betrieb. Die Besamung erledigt Christian Ilse selber. In einer Totalmischration (TMR) erhalten die Kühe zweimal täglich Mais- und Grassilage, hofeigenes Getreide sowie Raps- und Sojaschrot als Eiweissträger. Milchleistungsfutter setzt der Betrieb nicht ein.
Die ab 2014 anstehende Agrarreform – Kernpunkte sind das so genannte Greening und die Prämienkürzung – kümmert ihn derzeit nur wenig, da bei 50 Hektar Grünland die Prämie nur einen sehr kleinen Teil zum Umsatz beiträgt.
Viel Arbeit trotz technischem Fortschritt
Auch wegen der Abwechslung in seinem Beruf – vom Melken, der Stallarbeit und der Tierbetreuung bis zu Gras mähen, wenden und abfahren – möchte er mit Niemandem tauschen. Besonders zufrieden ist er mit der familiären Situation: Die drei Generationen – bis zum Tode von Christian Ilses Grossmutter vor zwei Jahren waren es sogar vier – leben auf einem Hof, der schon seit vielen Generationen von der Familie bewirtschaftet wird. Die Arbeitsbelastung ist aber trotz eines zusätzlich angestellten Mitarbeiters sehr hoch, auch am Sonntag ist Ilse mindestens sieben Stunden im Stall. "Trotz des modernen Stalls und des Melkstandes: Die Arbeit ist nicht weniger geworden, aber dafür hat sich natürlich auch der Bestand gegenüber früher verdreifacht", sagt Vater Ewald Ilse.
Zeit für gemeinsame Urlaube oder Abendveranstaltungen bleibt wegen der täglichen Verpflichtung kaum. Doch zu Gute kommt der jungen Familie, dass Mutter Heide sich um die Kinder kümmert, während Ehefrau Mirja im Stall mit arbeitet. Und auch Vater Ewald unterstützt bei allen betrieblichen Arbeiten sowie im Büro. Mittags gibt es jeden Tag gemeinsam um halb eins. Und was wird da besprochen? "Es geht eigentlich meistens um die Kühe", sagt Christian Ilse.
*Der Autor Christian Mühlhausen ist Agrarjournalist und Fotograf und betreibt die Website www.landpixel.de/ Er wohnt in Rosdorf bei Göttingen im Bundesland Niedersachsen.