«Schweizer Bauer»: Die neue Ernährungspyramide empfiehlt ein bis zwei Portionen weniger Milch/Milchprodukte. Wie ist es dazu gekommen?
Barbara Walther: Neu werden bei den Empfehlungen in der Ernährungsmittel-Pyramide vier Dimensionen berücksichtigt, davor waren es drei. Da sind wie bisher die bedarfsgerechte Nährstoffzufuhr durch eine vielfältige Lebensmittelauswahl, die Gesundheitsförderung und das in der Schweiz übliche Essverhalten. Neu werden zudem Nachhaltigkeitsaspekte berücksichtigt.
Welchen Effekt haben Milchprodukte auf die Gesundheit?
Die Beurteilung der Gesundheitsaspekte basiert auf einem wissenschaftlichen Bericht des Universitätsspitals Lausanne (CHUV), welcher die aktuelle Datenlage zusammenfasst. Danach könnte es sein, dass sich Milch und Molkereiprodukte positiv auf die Gesundheit des Gehirns, auf den Diabetes-Typ II, auf das Körpergewicht und auf verschiedene Krebsarten, insbesondere Dickdarmkrebs, auswirken. Unklar ist ihr Effekt für Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Andererseits kommt der Bericht zum Schluss, dass Milchprodukte die Entstehung von Prostatakrebs und Gebärmutterschleimhautkrebs verursachen könnten. Die meisten Studienergebnisse sind nach wie vor widersprüchlich oder unklar, was wahrscheinlich auf die Heterogenität der Studiendesigns und der untersuchten Populationen sowie auf Störfaktoren zurückzuführen ist. Andererseits kommen neuste Kohortenstudien mit bis zu 1 Million Teilnehmern zum Schluss, dass Milchprodukte bis 200 g/Tag keine nachteiligen Auswirkungen auf die Herz-Kreislauf-Gesundheit und auf die Gesamtmortalität haben.
Braucht es Milch/Milchprodukte in der Ernährung?
Milch ist unbestritten ein nährstoffreiches und nährstoffdichtes Lebensmittel. Milchprodukte sind eine bedeutende Quelle für hochwertige Proteine, gut verfügbares Kalzium und viele weitere Mikronährstoffe wie Jod, Vitamin B2 und B12.
Wie lauten die aktuellen Empfehlungen für den Milch- und Milchproduktekonsum?
Täglich sollten zwei bis drei Portionen ungezuckerte Milchprodukte gegessen werden. Eine Portion entspricht 2 Dezilitern Milch oder 150 bis 200 Gramm Joghurt, Quark, Hüttenkäse, Blanc battu, 30 Gramm Halbhart-/Hartkäse oder 60 Gramm Weichkäse.
Womit kann man Milch und Milchprodukte ersetzen?
Pflanzendrinks sind keine Alternativen zu Milch, sondern Produkte mit einer eigenen Ernährungs- und Funktionseinheit. Milchalternativprodukte bieten je nach ihren Grundzutaten eine Vielzahl von Nährwertprofilen, die sich stark von denen der Milchprodukte unterscheiden. Wird vollständig auf den Konsum von Milch und von Milchprodukten verzichtet, so muss die Gesamternährung angepasst werden, um einem Mangel an milchspezifischen Nährstoffen vorzubeugen.
SMP-Milchforum
Die Schweizer Milchproduzenten (SMP) haben gemeinsam mit ihrer Ostschweizer Mitgliedsorganisation VMMO im Rahmen der Olma in St. Gallen das SMP-Milchforum durchgeführt, heisst es in einer Mitteilung. Knapp 100 Gäste seien anwesend gewesen und hätten durch Fachleute und Meinungsmacher eine Einsicht zum Stellenwert der Milch in der Ernährung bekommen.
Véronique Guerne, wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen BLV, Barbara Walther, Ernährungswissenschaftlerin bei Agroscope, Béatrice Conrad, selbstständige Ernährungsberaterin und Mitglied des Schweizerischen Verbands der Ernährungsberaterinnen (SVDE), und Katja Riem, Nationalrätin SVP, waren als Referentinnen im Einsatz.
In der Podiumsdiskussion, die unter der Leitung von Foodaktuell-Chefredaktor Roland Wyss-Aerni stattfand, bei der zusätzlich Rahel Brütsch (SBLV) und Patrik Zurlinden (Swissmilk) teilnahmen, wurde die Frage erläutert, wie nachhaltig die neue Ernährungspyramide ist.
«Das erfreuliche Fazit, das gezogen werden darf: Milch und Milchprodukte gehören entsprechend nach wie vor zu einer gesunden und nachhaltigen Ernährung», schreibt die SMP. ats
Was ist der Milch-Matrix-Effekt?
Die Milchmatrix beschreibt die einzigartige Struktur eines Milchprodukts, seine Bestandteile (z. B. Nährstoffe und Nichtnährstoffe) und wie sie zusammenwirken. Der Matrixeffekt eines Milchprodukts bezieht sich mehr auf seine Wirkung auf die Gesundheit als auf die Nährstoffzusammensetzung. Sie beeinflusst vor allem die Kinetik der Nährstofffreisetzung im Verdauungstrakt, die Bioverfügbarkeit der Nährstoffe und damit ihre metabolische Wirkung sowie das Sättigungsgefühl. Sie entspricht einer ganzheitlichen Betrachtungsweise von Lebensmitteln, die besagt, dass das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile.
Was bedeutet das?
Essen ist mehr als die Summe der Nährstoffe. Die Matrix zählt – und das gilt für alle nicht und wenig verarbeiteten Lebensmittel. Die krebsschützende Wirkung von Früchten und von Gemüse ist auch nicht auf das Beta-Carotin allein zurückzuführen.
Gesundheitsaspekte werden neu bewertet. Die Sprache ist von reduktionistischem und holistischem Ansatz. Können Sie das erklären?
Im Reduktionistischen Ansatz wird ausgehend von einzelnen Nährstoffen, welche im Lebensmittel vorkommen auf die Gesundheitseffekte geschlossen. Am Beispiel der Milch und Milchprodukte führte der hohe Gehalt an Fett und gesättigten Fettsäuren zur Annahme, dass sie Übergewicht fördern und zu Arteriosklerose führen, was mit erhöhtem Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen verbunden ist. Beim holistischen Ansatz wird in grossen Kohorten-Studien der Verzehr von ganzen Lebensmitteln mit den Gesundheitseffekten verglichen um daraus Schlüsse zu ziehen. Die Resultate aus diesen Studien finden für den Konsum von Milch und Milchprodukten kein erhöhtes Risiko für Herz-Kreislauferkrankungen und die Gesamtmortalität
Beenden Sie die Sätze…
Die neuen Ernährungsempfehlungen… bestätigen die langjährigen Empfehlungen. Es gibt nur wenige Anpassungen, was die Konsistenz der wissenschaftlichen Grundlagen bestätigt und es den Konsumentinnen erleichtern sollte, die Ernährungsempfehlungen zu verinnerlichen.
Milchprodukte sind... eine gute und wichtige Quelle von hochwertigen Proteinen und von leicht verfügbarem Kalzium. Sie werden deshalb in der neuen Lebensmittelpyramide als eigene Gruppe erwähnt.
L andwirtschaft ist... ein wichtiger Wirtschaftszweig in der Schweiz und für die Produktion von hochwertigen Lebensmitteln bekannt. Das Potential für eine nachhaltigere Landwirtschaft ist erkannt und sollte mit Unterstützung aller Mitspieler und Zielgruppen möglichst rasch umgesetzt werden.
Manchmal frage ich mich, wenn bei uns ein Krieg aus bricht, wovon wollen sich dann die Menschen ernähren?