Dicke, schwarze Rauchwolken ziehen über die Strassen, Heuballen brennen. Auf grossen Transparenten wird gedroht: «Der Krieg hat begonnen.» Traktoren blockieren Autobahnen und Grosslager von Supermärkten, rammen Polizeiwagen, Bauern bedrohen Politiker.
Es herrscht Aufstand in den Niederlanden. Keine Spur von der adretten Frau Antje und dem lockeren Bauer Hein mit Holzschuhen: Das sind die Vorboten eines «Bürgerkrieges», warnte der Chef der Koalitionspartei ChristenUnie, Gert-Jan Segers.
Schüsse als düsteres Vorzeichen
Seit Wochen protestieren Bauern gegen geplante Umweltauflagen. In den Niederlanden droht die Eskalation, nachdem in der vergangenen Woche ein Polizist beim friesischen Heerenveen sogar zur Schusswaffe gegriffen hatte. Der 16-jährige Bauernsohn Jouke wurde nur knapp verfehlt. Die Schüsse von Herrenveen sind das düstere Vorzeichen für einen sehr heissen Sommer.
Ministerpräsident Mark Rutte will nun mit Bauern im Land reden. «Ich verstehe die unglaublich grossen Sorgen, die die Bauern haben», sagte er in Den Haag und rief sie auf, den von der Regierung bestellten Vermittler zu akzeptieren. Rutte wollte Ex-Minister Johan Remkes einsetzen. Doch die Bauernvertreter lehnen diesen ab. Remkes sei selbst für die Stickstoff-Politik verantwortlich, kritisieren die Landwirte.
50 Prozent weniger bis 2030
Der Protest der Bauern richtet sich gegen geplante Umweltauflagen. Denn im Juni stellte die Regierung in Den Haag den «Stickstoff-Plan» vor. Er sieht im Kern vor, dass die Landwirtschaft ihren Ausstoss an Stickstoffverbindungen bis 2030 um 50 Prozent reduziert. Verärgert hat die Bauern die detaillierte «Stickstoff-Karte» mit einzelnen Regionen, in denen die Gesamtemissionen um 12 Prozent bis hin zu etwa 70 Prozent in der Nähe von Naturgebieten sinken sollen. In der Nähe von Naturschutzgebieten soll der Ausstoss um bis zu 95 Prozent sinken. Die Verantwortung, das durchzusetzen, wird auf die Provinzen abgewälzt.
Die Pläne gehen auf einen Gerichtsentscheid im Jahr 2019 zurück. Die Regierung tue zu wenig, um europäischen Naturschutzvorgaben zu genügen, urteilte das oberste Verwaltungsgericht. Der hohe Emissionsüberschuss beeinträchtige die Artenvielfalt in Naturschutzgebieten. Das betraf den Bausektor, den Verkehr und die Landwirtschaft. Um nicht die Bautätigkeit einzuschränken, verfügte die Regierung ein Tempolimit.
Landwirtschaft Niederlande
Die Niederlande sind gemäss der Statistikbehörde CBS der zweitgrösste Exporteur von Agrarprodukten hinter den Vereinigten Staaten. Der Wert der Exporte erreichte 2021 knapp 105 Milliarden Euro (105 Mrd. Fr.). Nach CBS-Daten hat sich einerseits die Zahl der landwirtschaftlichen Betriebe seit dem Jahr 2000 auf 52’000 in etwa halbiert. Der durchschnittliche Viehhalter hält in seinen Ställen über 162 Rinder und damit knapp doppelt so viele wie damals. Bei Schweinen hat sich der Durchschnitt auf 3365 Tiere mehr als verdreifacht. Die Bauern des Landes halten rund vier Millionen Rinder, zwölf Millionen Schweine und 100 Millionen Hühner.
«Kahlschlag für Bauern»
Die Pläne der Regierung trifft vor allem die intensive Landwirtschaft. Nach Einschätzung der Regierung müssen etwa 30 Prozent der Viehhalter ihren Betrieb aufgeben. Kein Wunder, dass die Bauern um ihre Existenz fürchten.
Landwirte klagen, in den besonders betroffenen Regionen nahe Naturgebieten werde Viehhaltung kaum mehr möglich sein. Sie büssten unverhältnismässig für die Krise. Der Bauernverband LTO sprach von einem Kahlschlag. Landwirte erhielten viele Jahre lang Anreize, Höfe zu vergrössern – weswegen sie sich jetzt durch Pläne der Regierung getäuscht fühlen, den Viehbestand zu senken.
Das Stickstoff-Problem schwelt seit Jahren wie ein Polderbrand. Und das wird vor allem Premier Rutte angelastet. Der 55 Jahre alte Rechtsliberale, seit fast zwölf Jahren Regierungschef, ist immer der Strahlemann, immer scheinen Probleme von ihm abzugleiten wie der Pfannkuchen aus der Pfanne. Teflon-Mark ist sein Spitzname. Rutte ist ein Meister im Wegschieben von Problemen, bis ganz ans äusserste Ende der langen Bank. Doch das rächt sich nun.
Zunehmende Armut
Die Bauern sind nicht Ruttes einziges Problem. Da ist zum Beispiel auch die grosse Wohnungsnot, die jedes Jahr dramatischer wird. Die Engpässe in Krankenhäusern, die während der Corona-Krise fast zum Pflegenotstand führten. Die zunehmende Armut, die explodierenden Energiepreise, die hohe Inflation von über acht Prozent.
Mit grossem Elan war die Mitte-Rechts-Koalition vor gut sechs Monaten angetreten. Ruttes vierte Regierung wollte alte und neue Probleme angehen. Sie versprach einen neuen Führungsstil – offener, partnerschaftlicher. Und sie braucht die Opposition. Denn in der Ersten Kammer des Parlaments hat Rutte keine Mehrheit.
Bauernprotest Symbol für Unmut
Und nun? Nun steht die Koalition mit dem Rücken zur Wand, und sieht die Masse der Traktoren bedrohlich auf sich zukommen. Sie sind das Symbol für den zunehmenden Unmut vieler Bürger. Strahlemann Rutte verliert Glanz und Rückhalt. Sogar seine eigene Partei stellte sich auf die Seite der Bauern.
Die Opposition wetzt die Messer. Vor allem für die rechten und populistischen Parteien kommt der Bauern-Aufstand wie gerufen. Stickstoff ist für sie nach dem Corona-Lockdown nun das Thema, das die Wut der Bürger auf die Regierenden bündeln soll.
Proteste im radikaler
Der Rechtspopulist Geert Wilders warnte: «Die Niederlande sind ein Vulkan, der vor dem Ausbruch steht.» Abgeordnete der rechtsextremen Partei Forum für Demokratie sehen bereits vor sich, «dass das ganze System zusammenstürzt, so dass wir wieder die Macht ergreifen können». Die Bauern selbst werden immer radikaler, wie Umfragen zeigen. Und nach Angaben der Anti-Terrorismusbehörde hängen sich immer häufiger gewaltbereite Gruppen an die Proteste.
Der politische Kommentator der Zeitung NRC Handelsblad, Tom-Jan Meeus, sieht zunehmend antidemokratische Tendenzen und beschreibt sie so: «Es geht nur um uns, unsere Meinungen, unser Interesse, der Rest kann uns egal sein.» Das spiele der politischen Instabilität in die Hände. Schon jetzt erreicht kaum noch eine Partei 20 Prozent der Stimmen. Im Parlament mit 150 Abgeordneten gibt es nun 20 Fraktionen, darunter viele rechte Splitterparteien. Und die wittern ihre Chance: Chaos in Den Haag.
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