Im Mittelalter waren Gewässer noch ungezähmt und unerforscht, wichtige Handelsrouten, aber auch Gefahrenquelle und Heimat unheimlicher Wesen. Auf einer Tagung in Bern spürten Historikerinnen und Historiker diese Woche mittelalterlichen Schifffahrten und monströsen Wassertieren nach.
Um die Bedeutung des Wassers zu jener Zeit zu verstehen, muss man sich kurz in die (harten) Holz- oder (undichten) Lederschuhe eines Europäers zwischen dem 6. und 15. Jahrhundert versetzen. Die Fortbewegung zu Lande ist eine holprige Tortur und so gefährlich, dass sich Handelsreisende nur in Konvois über die Alpenpässe wagen.
Gebrauch und Symbolik des Wassers
Wasser ist etwas, das Gott vom Himmel regnen lässt (oder auch nicht), das Äcker nährt oder überschwemmt und das mangels Brücken mit Barken oder Fähren überwunden werden muss. Was darin lebt, ist - bis auf die wenigen gefangenen Tiere - weitgehend schleierhaft. Was diese Zustände für «Gebrauch und Symbolik des Wassers in der mittelalterlichen Kultur» bedeuteten, diskutierten über 100 Historikerinnen und Historiker von Montag bis Mittwoch an der gleichnamigen Tagung des Verbands der Mittelalterforschenden (Mediävisten) in Bern.
So konnten Konvois in den Alpen zwar vor Räubern, nicht aber vor Lawinen schützen. «Immer wieder erfahren wir von Pilgergruppen und Händlern, die im Winter bei viel Schnee die Pässe überquerten und dann massiver Lawinengefahr ausgesetzt waren», sagt Christian Rohr, Professor für Umwelt- und Klimageschichte an der Universität Bern.
Rettung von Verschütteten
Zur Hilfe gab es nicht nur Hospize am Weg, sondern auch sogenannte «Marones»: Ortskundige Einheimische, die Menschen gegen Bezahlung über die Pässe lotsten. Sie waren im Gegensatz zu anderen Reisenden mit winterfester Kleidung, Schuhen mit Spikes und langen Stangen zur Sondierung des Weges bestens ausgerüstet.
Aus einem Bericht aus dem 12. Jahrhundert zur Reise des Abtes Rudolf von Saint-Trond (Belgien) weiss man, dass die «Marones» beachtliches Expertenwissen besassen, was die Rettung von Verschütteten betraf. Stark von Lawinen bedroht waren auch die Siedlungen der Walser, die ab dem 13. Jahrhundert auf neue Siedlungs- und Weideflächen in den Bergen vorstiessen. Sie holzten dafür viel Wald ab - noch heute gehören ehemalige Walsersiedlungen wie Vals oder St. Antönien im Prättigau zu den besonders lawinengefährdeten Orten, erklärt Rohr.
Wasser für Kloster und Stadt
Wasser verband die Menschen aber auch. Im 15. Jahrhundert lagen sich Stadt und Kloster St. Gallen in den Haaren, weil sich Erstere aus der Herrschaft des Letzteren befreien wollten. Doch beiden mangelte es an sauberem Trinkwasser. Also rauften sie sich 1471 zusammen und bauten eine Wasserversorgung, wie Doris Bentele-Baumann, die an der Universität Zürich promoviert, erzählt.
Die Kosten und Arbeiten für das Fassen von zwei Quellen und den Bau einer mehrere Kilometer langen Wasserleitung teilten sie sich. Zwei Brunnenmeister beider Parteien achteten auf die korrekte Umsetzung des Vertrags. Dieser wurde innert 400 Jahren viermal aktualisiert und war bis 1895 in Kraft, als die Wassergewinnung aus dem Bodensee begann.
Deutsches Getreide
«Heute nehmen wir Gewässer wie den Bodensee und Rhein als trennend wahr», sagt Stefan Sonderegger, Historiker an der Universität Zürich und am St. Galler Stadtarchiv. «Im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit hingegen waren sie als Transportwege verbindend.» Der Handel über diese Gewässer habe zu einem Grossteil der menschlichen Grundversorgung gedient. Güter wie Getreide, Salz, Molkeprodukte und Leinwand wurden über den See hinweg gehandelt, berichtet Nicole Stadelmann, die in Sondereggers Gruppe promoviert.
Vom Nord- ans Südufer wurde insbesondere Getreide verschifft, da viele Ostschweizer Bauern auf die Textilherstellung umsattelten. Den umgekehrten Weg nahmen Schlachtvieh und Viehprodukte aus dem Toggenburg und dem Appenzellerland. Ähnliche wirtschaftliche Bedeutung hatte auch der gut 90 Kilometer lange Alpenrhein.
Krokodilstränen
Um einiges diffuser waren die zeitgenössischen Vorstellungen von exotischen Wassertieren. Das Krokodil etwa habe den Kopf eines Löwen und das Hinterteil einer Schlange, glaubte man. «Die Menschen im Mittelalter hatten keine Gelegenheit, je ein Krokodil zu sehen», sagt Richard Trachsler von der Universität Zürich.
Sie glaubten, was «Experten» in Büchern schrieben. Im «Physiologus», einer im Mittelalter weit gebräuchlichen Naturenzyklopädie, hiess es vom Reptil, das eben einen Menschen verschlungen hat: «Wenn es nahe an den Kopf kommt, setzt es sich hin und betrauert ihn.» Die Augen von Krokodilen tränen tatsächlich beim Fressen. Dies wurde dem Tier als Heuchelei ausgelegt - daher der Ausdruck «Krokodilstränen».
Einhorn und Riesen-Wale
Auch anderen Tieren traute man Grosses zu: Wale seien gross wie Inseln und könnten sich mit Sand bedecken. Entzündeten ahnungslose Seefahrer Feuer auf der «Insel» an, tauche er ab und risse sie mit. Der «Schiffshalter» - jener kleine Fisch mit Saugnapf am Kopf, der sich gerne an Haie heftet - könne ganze Schiffe zurückhalten. Auch das Einhorn «überlebte» so während Jahrhunderten.
Die unbekannten, wilden Tiere stellten eine Projektionsfläche für die tiefsten Ängste der Menschen und ihre moralischen Wertungen dar, sagt Trachsler. «Die Gelehrten im Mittelalter stützten sich vielleicht weniger auf Beobachtungen als heutige.» Doch sie lieferten dafür eine klare spirituelle Welterklärung.