Erschöpft und ausgehungert ist Eusevino Pausen an dem Büro einer Hilfs-organisation in der nord-mexikanischen Kleinstadt Creel angekommen. Die Hungersnot des Indianervolks Tarahumara erlangt landesweite Aufmerksamkeit.
Einen achtstündigen Fussmarsch hat der junge Mann vom Indianervolk der Tarahumara nach eigener Schilderung hinter sich. Seine Not ist gross: «Haben Sie etwas zu essen? Ich habe Hunger», wispert er mit kaum hörbarer Stimme. Sein Volk leidet unter einer Hungersnot, ausgelöst durch eine extreme Dürreperiode - laut mexikanischer Regierung die schlimmste Dürre seit 70 Jahren.
So schlimm soll der Hunger unter den Tarahumara sein, dass angeblich sogar rund 50 von ihnen Selbstmord begingen. Dieses Gerücht kursierte Mitte Januar, wurde aber von der Regierung wie auch Helfern vor Ort dementiert.
Gleichwohl hat seitdem das Schicksal der Tarahumara, die im Bundesstaat Chihuahua weitgehend isoliert in den Schluchten der Sierra Madre Occidental - auch Sierra Tarahumara genannt - leben, landesweite Aufmerksamkeit erlangt.
Landwirte demonstrieren in Hauptstadt Mexiko-City
Von der Dürre sind auch andere Landesteile betroffen. Am vergangenen Wochenende traf eine Karawane von Landwirten und Viehzüchtern verschiedener Regionen in Mexiko-Stadt ein. Die Demonstranten, darunter auch Tarahumaras, machen seitdem mitten im Zentrum der Hauptstadt auf ihre Not aufmerksam.
Präsident Felipe Calderón hat inzwischen ein Hilfsprogramm mit einem Volumen von umgerechnet knapp zwei Milliarden Euro angekündigt. Er verspricht: «Niemand wird unter Mangel an Wasser oder Essen leiden, niemand wird sterben.» Die Hungersnot rührt auch an das nationale Selbstverständnis des Schwellenlandes Mexiko, das stolz auf seine Mitgliedschaft im Staatenclub der G-20 ist.
Verdorrte Felder und extreme Kälte
Für die Tarahumara ist soviel landesweites Interesse neu. «Noch nie haben wir einen solchen Grad von Aufmerksamkeit erlebt», sagt die Missionarin Sandra Luz Cerda, die seit mehreren Jahren im Siedlungsgebiet dieses Indianervolks lebt.
Dabei kennen die Tarahumara die Armut schon seit langem, und auch der Hunger ist ihnen nicht neu. Doch ist die Not seit Monaten besonders gross. Zu der Dürre kam extreme Kälte hinzu - ohne dass es bislang den Schneefall gegeben hätte, der die natürliche Wasserversorgung aus den Bergen wieder steigen liesse.
Die Felder der Tarahumara an den Berghängen sind verdorrt. «Wir haben nichts zu Essen, weder Mais noch Bohnen», berichtet Julia Plácido, eine junge Indianerin, die mit ihrem Baby in den Armen mit hunderten anderen Menschen in dem Dorf Samachique auf die Nahrungsausgabe wartet.
Die geographische Isolation der Tarahumaras erschwert die Hilfsprogramme. Im Laufe der Jahrhunderte haben sie sich weniger mit der übrigen Bevölkerung vermischt als andere Ureinwohner Mexikos.
Für Ausdauer berühmt
Auch wenn die traditionellen Lebensformen der schätzungsweise 220’000 Tarahumaras durch die Armut wie auch die Ausbreitung der Drogenmafia zunehmend bedroht sind, leben die meisten von ihnen nach wie vor zerstreut in der zerklüfteten Canyonlandschaft, in die ihre Vorfahren einst vor den spanischen Konquistadoren flüchteten.
Berühmt sind die Tarahumaras allerdings für ihre Ausdauer und Zähigkeit - vor allem für ihre Fähigkeit, weiteste Strecken über Berge und durch Schluchten zu Fuss zurückzulegen, oft ohne Schuhe. Sie selber nennen sich «Rarámuri», was soviel wie «Leichtfüsser» bedeutet.
Die Schlangen vor den Hilfsstationen zeigen, dass die Leidensfähigkeit der Tarahumara derzeit extrem auf die Probe gestellt wird. Noch will Octavio Hijar von Tarahumara-Stiftung in Creel zwar nicht von einer regelrechten humanitären Krise sprechen. Aber er warnt, die Dürre sei längst nicht vorbei: «Zwischen März und Juni wird es noch schlimmer.»