Vor zwei Jahren bekam Ueli Siegenthaler, Züchter und Landwirt, die Hiobsbotschaft: Er leide an akuter Leukämie. Was das auslöste und wie es ihm heute geht, erzählt er auf seinem Hof in Oberwil im Simmental BE.

Der Gedanke an seine Kühe und die Zucht gaben Ueli Siegenthaler Kraft.
Julia Spahr
Während den Festtagen präsentieren wir euch in regelmässiger Folge Artikel, die 2023 auf reges Interesse gestossen sind. Dieser Artikel wurde am 2. Februar 2023 erstmals publiziert.
Er fühlte sich nicht gut, war ständig müde, die Lymphknoten geschwollen, und plötzlich bekam er einen Ausschlag. Ueli Siegenthaler ging zum Arzt. Er habe wohl bei einer Kuh etwas aufgelesen, dachte der, verschrieb Antibiotika und schickte ihn heim.
Dachte an Andi Hug
Etwas später brach Siegenthaler zusammen. Er ging in den Notfall ins Spital Thun. Nach ein paar Untersuchungen sagte ihm der Arzt, er müsse ins Inselspital nach Bern. «Ich wünsche Ihnen alles, alles Gute», habe er gesagt. «Da wusste ich, dass es ernst ist», sagt Siegenthaler. Heute sitzt der 35-Jährige in der Küche seines Bauernbetriebs in Oberwil im Simmental BE. Hinter ihm hängen Fotos von Hochzeitspaaren und Neugeborenen. An der anderen Wand Bilder von Kühen.
Im Inselspital habe er nach weiteren Untersuchungen in einem Zimmer gewartet. Bis die Pflegefachfrau kam. Mit einem Krankenhaushemd. Er solle das anziehen. «Wieso? Ich gehe gleich heim.» «Hat noch niemand mit Ihnen geredet?» fragte die Schwester, blass im Gesicht. «Nein.» Der Arzt kam. «Sie haben eine akute Leukämie.» «Als Erstes dachte ich an Andi Hug», sagt Siegenthaler heute. Den Kampfsportler, der eine Wochen nach eben dieser Diagnose tot war. Im Alter von 35 Jahren.
«Wird kein Spaziergang»
«Wie lange habe ich noch?» fragte Siegenthaler den Arzt. Am Küchentisch lacht er. Heute erscheint ihm die Frage blöd. «Hören Sie, das wird kein Spaziergang», sagte der Arzt. «Aber eine Leukämie lässt sich heilen, wenn man sie früh erkennt.» «Von da an wusste ich, jetzt gibt es nur eins. Du musst kämpfen, damit du deine Freundin nicht alleine lässt und deine Eltern und weil du diesen Betrieb führen willst. Du musst kämpfen, damit du das Leben, das du hattest, wieder bekommst», sagt Siegenthaler.
Dieses Leben ist das eines Familienmenschen, eines Bauers, eines Züchters. Siegenthaler ist auf dem Betrieb in Oberwil aufgewachsen. Heute führt er ihn. Er hält 30 Milchkühe, macht Aufzucht und bewirtschaftet gut 30 Hektaren im Tal. Zudem gehören ihnen 136 Hektaren Alpweide auf 1800 m ü. M. Siegenthaler und seine Eltern haben mit dem Präfix Sihu schon unzählige züchterische Erfolge gefeiert.
Isolationszimmer im Inselspital
All das musste jetzt warten. Denn wie der Arzt gesagt hatte, stand Siegenthaler kein Spaziergang bevor. Auf seine Diagnose folgten anderthalb Jahre Behandlung. Als Erstes war er während eines Monats in einem Isolationszimmer in der Insel. Sein Immunsystem wurde heruntergefahren, damit es die Behandlung nicht bekämpfte. Nur seine Frau durfte zu ihm, sonst niemand.
«Es war die schlimmste Zeit meines Lebens.» Die heftige Chemo führte dazu, dass nichts mehr funktionierte. Die Verdauung und alle normalen körperlichen Abläufe waren gestört. Er hatte unerträgliche Schmerzen, deshalb bekam er Morphin. «Für meine Nächsten war diese Zeit deshalb wohl fast schlimmer als für mich, ich habe durch die starken Schmerzmittel manches nicht richtig mitbekommen», sagt er. Die erste Chemotherapie schlug an und führte zum schönsten Moment in Siegenthalers Leben, wie er sagt. «Sie können für zehn Tage nach Hause», sagte der Arzt.
Er ging heim, war bei seinen Eltern, seiner Frau, die damals noch seine Freundin war, seinem Onkel und dessen Sohn, die auf dem Hof halfen, weil er nicht mehr konnte. Er ging für weitere Chemozyklen ins Spital. Dort hielt er sich mit einem geregelten Tagesablauf die Moral hoch. Er arbeitete jeden Tag ein paar Stunden, traf strategische Entscheide und suchte Paarungen heraus für seine Zucht. Das gab ihm Kraft.
Was ist Leukämie?
Der Begriff «Leukämie» steht für eine Gruppe von Krebserkrankungen des blutbildenden Systems, die sich bezüglich Häufigkeit, Ursachen, Behandlungsmöglichkeiten und Heilungsaussichten zum Teil stark voneinander unterscheiden. Leukämien entstehen, wenn der normale Reifungsprozess der weissen Blutkörperchen (Leukozyten) im Knochenmark durch eine Fehlschaltung bestimmter Kontrollgene unterbrochen ist. Anstelle von reifen, das heisst vollständig entwickelten und somit funktionstüchtigen weissen Blutkörperchen entstehen mehr oder weniger unausgereifte weisse Blutkörperchen. Diese Zellen sind in der Regel nicht funktionsfähig und haben die Eigenschaft, sich rasch und unkontrolliert zu vermehren. Sie verdrängen dadurch zunehmend die normale Blutbildung im Knochenmark, sodass gesunde weisse Blutkörperchen sowie rote Blutkörperchen und Blutplättchen nicht mehr im notwendigen Umfang gebildet werden. Blutarmut (Anämie), Infektionen und erhöhte Blutungsneigung können die Folge und zugleich auch das erste Anzeichen einer Leukämie sein. Da Leukämien von Anfang an nicht auf eine bestimmte Stelle im Körper begrenzt sind, werden sie auch als bösartige Systemerkrankungen bezeichnet. mgt
Quelle: Deutsche Krebsgesellschaft, krebsgesellschaft.de
Doch sein Krankheitsweg war noch nicht zu Ende, der Krebs war durch die Chemo nicht vollständig aus seinem Körper gewichen. Er kam zurück.
Unglaubliches Glück
Für Siegenthaler gab es nur noch eine Hoffnung: Er brauchte eine Stammzellenspende. Dafür gibt es eine Datenbank, die Spenderinnen und Spender aus ganz Europa enthält. Es war aber nicht sicher, dass dort jemand zu ihm passen würde. Aber Siegenthaler hatte Glück. Ein Spender passte hervorragend.
Er weiss nichts von ihm, nur, woher er kommt, und wie alt er ist. Siegenthaler nahm die Spende an, obwohl das Verfahren mit unglaublichen Risiken verbunden ist. «Es konnte alles schiefgehen, doch ich musste daran glauben, dass es klappen würde», sagt er. Der dicke Ordner, in dem alle Risiken aufgeführt sind, steht noch immer ungeöffnet in seinem Büro.
Traum erfüllt
Zu Recht. Es kam alles gut. Siegenthaler ist geheilt. Im September 2021 verliess er das Spital in Basel und am 4. Dezember des gleichen Jahres ging es ihm so gut, dass er mit Alain Jungo an der Junior Expo in Bulle FR als Assistenz-Richter amten konnte.
Ein weiterer Traum wurde im Sommer 2022 wahr. Siegenthaler konnte seine Freundin heiraten. Eingeladen waren auch die Pflegefachfrauen des Inselspitals. Ohne sie und die Ärzte in Bern und Basel würde er heute nicht mehr leben, sagt er. Und auch nicht ohne seinen Spender. Er denke heute nicht mehr jeden Tag an die Krankheit, die Angst, dass sie wiederkomme, sei nicht mehr so gross. Aber er empfinde jeden Tag eine grosse Dankbarkeit und kann nun in die Zukunft blicken, will mit seiner Frau eine Familie gründen und weiterhin züchterische Erfolge feiern.


Wünsche Ihnen für den Durchhalte willen für die Zukunft al