Das Schweizer Stimmvolk entscheidet am Sonntag über die Reform der Altersvorsorge und einen neuen Verfassungsartikel zur Ernährungssicherheit. Gemäss mehreren Umfragen ist der Gegenvorschlag zur Ernährungssicherheitsinitiative unbestritten.
Die Stimmberechtigten können über einen Verfassungsartikel zu Ernährungssicherheit entscheiden. Der Verfassungsartikel für die Ernährungssicherheit ist laut Umfragen weitgehend unbestritten. Gemäss einer SRG-Umfrage von September will ihm eine klare absolute Mehrheit von 69 Prozent bestimmt oder eher zustimmen. Nur 20 Prozent sind bestimmt oder eher dagegen. Die Tamedia-Umfrage ergibt eine Zustimmung von 67 Prozent und eine Ablehnung von 27 Prozent.
150'000 Unterschriften in drei Monaten
Die Bauern befürchteten, mit der neuen Agrarpolitik könnte die einheimische Produktion geschwächt werden. Die Initiative «für Ernährungssicherheit» wurde vom Schweizer Bauernverband (SBV) und dem Verein für eine produzierende Landwirtschaft (VpL) um den Berner SVP-Nationalrat Rudolf Joder lanciert. Sie war eine Reaktion auf die vom Parlament beschlossene Agrarpolitik 2014-2017, die vom Bauernverband mitgetragen wurde. Die Initiative wurde im Juli 2014 mit fast 150'000 Unterschriften eingereicht. Diese wurden innert nur dreier Monate gesammelt.
Dem Bundesrat und der Mehrheit des Parlaments ging die Initiative zu weit. Das Parlament arbeitete einen Gegenvorschlag aus. Weil der Bauernverband damit zufrieden war und seine Initiative zurückzog, wird nur über diesen abgestimmt. Der neue Verfassungsartikel beauftragt den Bund damit, Voraussetzungen zu schaffen, um die Versorgung der Schweiz mit Lebensmitteln sicherzustellen. Gesetzesänderungen sind nicht geplant.
Gegenvorschlag mit 5 Punkten
Der Gegenvorschlag sieht vor, dass für die Ernährungssicherheit ein umfassendes Gesamtkonzept in die Verfassung aufgenommen wird. Dazu gehört die Sicherung des Kulturlandes, eine standortangepasste und ressourceneffiziente Lebensmittelproduktion und eine auf den Markt ausgerichtete Land- und Ernährungswirtschaft. Der Gegenvorschlag sieht aber auch grenzüberschreitende Handelsbeziehungen vor, die zur nachhaltigen Land- und Ernährungswirtschaft beitragen. Der Bund soll zudem Voraussetzungen für einen ressourcenschonenden Umgang mit Lebensmitteln schaffen.
Stärkung der inländischen Produktion
Die Mehrheit der Parteien, der Bauernverband, Wirtschaft und Umweltschutzverbände unterstützen den Gegenvorschlag. Dieser wird aber unterschiedlich gedeutet.
Der Bauernverband versteht unter dem Verfassungsartikel vor allem eine Stärkung der einheimischen Produktion und Landwirtschaft. Mit dem Verfassungsartikel könne die Bevölkerung Verantwortung übernehmen und mitbestimmen, wie Lebensmittel produziert würden, sagte der Verband anlässlich einer Medienkonferenz. Importiert sollen jene Lebensmittel werden, die in der Schweiz nicht im genügenden Mass produziert werden. Diese sollen aus der Sicht des Komitees nachhaltig sein. «Fairer Handel statt Freihandel», soll die Devise lauten.
Agrarminister will mehr Freihandel
Agrarminister Johann Schneider-Ammann interpretiert die Vorlage anders. Der neue Verfassungsartikel schaffe die Grundlage für eine zukunftsgerichtete, moderne und marktwirtschaftlich ausgerichtete Landwirtschaft. Die Ernährungssicherheit könne aber nur gewährleistet werden, wenn die Märkte für Agrarprodukte geöffnet werden, so der FDP-Bundesrat. Der Bundesbeschluss schaffe die notwendige Grundlage dazu.
Die Schweiz sei auf Importe von Nahrungsmitteln und landwirtschaftlichen Hilfsstoffen wie Maschinen, Diesel, Dünger angewiesen. Deshalb sei es für die Ernährungssicherheit der Schweiz essentiell, mit den anderen Ländern gute Handelsbeziehungen zu unterhalten, erklärte der Agrarminister.
Nationalrat Jacques Bourgeois (FDP, FR) und Bauernverbandsdirektor sagte dazu: «Der Buchstabe d des Verfassungsartikels unterstreicht mit den grenzüberschreitenden Handelsbeziehungen, die zur nachhaltigen Land- und Ernährungswirtschaft beitragen, dass die Schweiz nicht autark sein kann.» Es brauche den Import. Aber die inländische Produktion bleibe ein wichtiger Pfeiler der Ernährungssicherheit. Und er betonte: «Der Verfassungsartikel soll nicht den Freihandel, sondern den fairen Handel fördern.»
Kein Protektionismus, mehr Ökologie
Ein zweites Ja-Komitee interpretiert den Verfassungsartikel als eine Absage an Abschottung und Protektionismus, indem er die grenzüberschreitenden Handelsbeziehungen erwähnt. Insgesamt geht es diesen Befürwortern um mehr Markt und mehr Nachhaltigkeit. Sie wollen sich vom Bauernverband abgrenzen.
Auch die Umweltverbände wollen ein Ja zur Ernährungssicherheit bei der Abstimmung. Sie verstehen die Zustimmung als Auftrag für eine klar ökologisch ausgerichtete Landwirtschaftspolitik. Sie fordern entsprechende Anpassungen im Landwirtschaftsgesetz. So seien Regeln für eine standortangepasste Landwirtschaft nötig, um die massiven Nährstoffüberschüsse zu reduzieren und den Rückgang der Biodiversität zu stoppen.
Der Gegenvorschlag
Die Bundesverfassung wird wie folgt geändert:
Art. 104a Ernährungssicherheit
«Zur Sicherstellung der Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln schafft der Bund Voraussetzungen für:
a) die Sicherung der Grundlagen für die landwirtschaftliche Produktion, insbesondere des Kulturlandes;
b) eine standortangepasste und ressourceneffiziente Lebensmittelproduktion;
c) eine auf den Markt ausgerichtete Land- und Ernährungswirtschaft;
d) grenzüberschreitende Handelsbeziehungen, die zur nachhaltigen Land- und Ernährungswirtschaft beitragen;
e) einen ressourcenschonenden Umgang mit Lebensmitteln.