Das Myzel bezeichnet die fadenförmigen Zellen eines Pilzes, die sich unterirdisch ausbreiten. Der sichtbare Pilz ist nur deren Fruchtkörper. Wenn der Pilz also ein Apfel ist, dann ist das Myzel der ganze Baum, samt Wurzeln. Das Myzel bildet ein dichtes Netzwerk aus weissen Fasern im Boden, auf Holz oder anderem organischen Material.
Einem Team aus Biologen, Bioingenieuren, Architekten und Produktentwicklern an der Vrije Universiteit Brussel ist es nun gelungen, aus diesem Myzel ein «Leder» zu entwickeln, das auch für die Produktion von Handtaschen verwendet werden kann. Es brauche etwa 2 Wochen bis genügend Myzel herangewachsen ist, um eine Handtasche herzustellen, berichtet die Universität.
Landwirtschaftliche Abfälle als Basis
Für seine Forschung sammelte der Doktorand Simon Vandelook verschiedene Pilzsporen aus einem nahegelegenen Wald. Er züchtete die Sporen dann im Labor in einer Petrischale heran. Dann wählte er jene Pilzsporen aus, welche das dichteste Netzwerk an Myzelfasern aufwies.
Diese Pilzfasern können auf einer Vielzahl organischer Abfälle oder Nebenprodukte aus Landwirtschaft und Industrie wachsen. Das gewonnene Material ist ausserdem biologisch abbaubar, sodass ein Kreislaufprozess entsteht. Bei seiner Forschung gehe es darum, die idealen Wachstumsbedingungen für das Myzel zu schaffen, um dann das bestmögliche Material zu erhalten, erklärt Vandelook.
Insgesamt dauerte es etwa zwei Wochen, um beispielsweise genug Material für eine Handtasche herzustellen, was einen nachhaltigen und relativ schnellen Prozess darstellt.
Das Myzel eines Austernpilzes breitet sich in einer Petrischale auf Kaffeesatz aus.
Tobi Keller
100 % nachhaltig
Leder auf Pilzbasis ist nichts Neues. Bisher ist aber das gewonnene Rohmaterial noch nicht stark genug oder von ausreichender Qualität, um daraus Kleidung, Schuhe, Taschen oder Stühle herzustellen. Es muss dazu immer noch mit nicht nachhaltigen Materialien wie Kunststoff kombiniert werden.
Die Belgischen Forscher haben nun eine Methode entwickelt, die eine Verstärkung mit biobasierten Komponenten ermöglicht und so die Haltbarkeit des Produkts deutlich verbessert. Ergebnis ist nun dieser erste Prototyp einer Handtasche, die zu 100 % nachhaltig ist.
Lebende Pilze sorgen für Selbstreparatur
„Wir stehen erst am Anfang einer Reise weiterer Forschung und Entwicklung», sagt Produktdesignerin Anouk Verstuyft. Eine nächste Stufe könnte sein, dem Material Farben hinzuzufügen. Angestrebte werde auch eine Zusammenarbeit mit Industriepartnern, um weitere potenzielle Anwendungen zu testen.
„Derzeit töten wir das Myzel durch Wärmebehandlung ab, aber mit der Zeit könnte es sogar am Leben gehalten werden, was eine Selbstreparatur möglich macht. Das ist aber vorerst etwas für die Zukunft, auf die wir mit dem kürzlich gestarteten europäischen Projekt Fungateria hinarbeiten», sagen die leitenden Professorinnen Elise Vanden Elsacker und Eveline Peeters. Tragen wir also schon bald «lebende» Schuhe?
Das EU-Projekt «Fungateria»
Das FUNGATERIA-Projekt konzentriert sich darauf, myzelbasierte Materialien in einen „Engineered Living Material“ (ELM = konstruiertes, lebendes Material)-Kontext zu bringen. ELMs umfassen lebende Zellen, die in Anwendungsfällen biologisch aktiv bleiben und dadurch völlig neue und massgeschneiderte Funktionalitäten gegenüber nicht lebenden Materialien bieten, zum Beispiel: Selbstregeneration, Anpassung an Umwelteinflüsse und Selbstorganisation über Skalen- und Strukturhierarchien hinweg.
Das aufstrebende Gebiet der ELM steckt noch in den Kinderschuhen, verspricht jedoch radikale und bahnbrechende Alternativen zu den derzeitigen Methoden der Materialproduktion. Die Projektleiter sprechen von einer Biofabrikation, die im 21. Jahrhundert zu einer vorherrschenden Fertigungsart werden dürfte. Das Projekt startete im November 2022 und ist auf 4 Jahre angelegt.