In Indiens Vorstädten spriessen neue Bürotürme aus dem Boden. Das Land ist auf dem Weg zur globalen Wirtschaftsmacht. Doch auf dem Bau ist die Tradition manchmal präsenter als die Moderne - etwa mit Eseln als Arbeitstieren.
Mühsam schleppen sich die acht kleinen Esel das unfertige Treppenhaus hoch. Immer wieder bleiben sie auf den Betonstufen stehen, bis Ranbir Singh kommt und sie mit seinem Holzstock weiter treibt. Auf den Rücken tragen die Tiere jeweils 30 Kilogramm Sand - und damit auch einen Teil der Zukunft Indiens.
Die Esel werden als Arbeitstiere auf einer Baustelle in Noida eingesetzt, einer Satellitenstadt vor den Toren der Hauptstadt Delhi. Über mehrere Quadratkilometer ragt hier ein Betonskelett neben dem anderen aus dem Boden.
Noch gibt es keine fertigen Strassen, sondern nur Staub und Arbeiter, die in einfachsten Hütten leben. Bald aber sollen hier Glasfassaden, Hochhäuser und luxuriöse Shopping-Malls stehen.
In der sechsten Etage befreit Singh die Esel von ihrer Last. 150 Indische Rupien (etwas 2,50 Franken) bekommen er selbst und jeder seiner Esel als Tageslohn. Die Arbeiter, die mit dem Sand das nächste Stockwerk aufsetzen, erhalten je 140 Rupien (2,30 Franken).
Von hier oben ist am Horizont jenes Indien zu sehen, das auf dem Weg zur globalen Wirtschaftsmacht ist. Dort glitzert der bereits fertiggestellte Teil der Industriestadt Noida, in der unzählige IT- Firmen sitzen, Konferenz-Center Gäste empfangen und Formel-1-Autos ihre Runden drehen.
Hilfsorganisation für Esel
Ohne Rast machen sich die Esel vorsichtig an den Abstieg im offenen Treppenhaus. «Es passiert manchmal, dass ein Esel einen anderen anrempelt und dieser dann runterstürzt», erzählt Tierarzt Surajit Nath.
Dann werden er und seine Kollegen von der Wohltätigkeitsorganisation Donkey Sanctuary (Zufluchtsstätte für Esel) angerufen. Sie bringen den meist sehr armen Besitzern auch Medikamente und Verbandszeug. «Oft aber verabreichen sie den Eseln die Medizin nicht», klagt Nath. «Das grösste Problem ist allerdings, dass die Esel oft überladen werden und falsche Gurte tragen», klagt Nath. Er zeigt auf offene Stellen am Hinterteil eines Esels, an dem die dünnen Stricke einschneiden.
Dann kniet er sich nieder und schaut einem Tier ins Maul, um an den Zähnen das Alter abzulesen. «Höchstens zwei Jahre alt», sagt er. Wenn die Esel so jung eingesetzt würden, hätten sie nach zwei Jahren Arthrose und könnten nicht mehr richtig laufen. Deswegen versuche seine Organisation auch, den Besitzern mehr Wissen über artgerechte Haltung zu vermitteln.
Maschinen sind schneller
Donkey Sanctuary schätzt, dass es etwa 1,85 Millionen Esel in Indien gibt. Heute tragen sie vor allem Ziegel, Steine und Sand oder ziehen Karren, berichtet Veterinär Nath.
In den vergangenen Jahrzehnten sei die Arbeitskraft der Esel stets für die kleinen und grossen Projekte des Landes eingesetzt worden: Minen wurden mit ihrer Hilfe erschlossen sowie Tunnel gegraben und Kanäle ausgehoben.
«Ich arbeite mit Eseln, seit ich zwölf Jahre alt bin», erzählt der 58-Jährige Singh. Viele Firmen benutzten heutzutage Maschinen, beklagt er, und zeigt mit seinem Arm, der in einem langen, hellen Gewand steckt, auf die Nachbarbaustelle. Dort ziehen Kräne die schweren Lasten nach oben. «Esel brauchen einfach länger», räumt er ein.
Sein Sohn arbeite nicht mehr mit ihm zusammen, sondern sei Beamter geworden. Er aber wolle die Tradition fortführen, solange es gehe. «Die Tiere sind ein Teil der Familie», sagt er. «Alles, was wir haben, verdanken wir den Eseln».