Experimente, die den Effekt der Klimaerwärmung auf den Lebenszyklus von Pflanzen simulieren, unterschätzen diesen um ein Mehrfaches. Dies ergab eine internationale Studie mit Schweizer Beteiligung. Der Befund stellt auf Experimenten basierende Prognosen über Ökosysteme im Klimawandel in Frage.
Wenn der Klimawandel den Wuchs und die Blühzeit von Pflanzen verändert, kann das weitreichende Auswirkungen haben. Denn von Pflanzen hängen ganze Nahrungsketten und Ökosystem Dienstleistungen ab, wie die Bestäubung von Nutzpflanzen, Nährstoffkreisläufe oder Wasservorräte.
Künstliche Systeme bilden die Realität schlecht ab
Ökologen versuchen deshalb, die Auswirkungen der Erwärmung mit Experimenten abzuschätzen, bei denen entweder mit Wärmestrahlern von oben oder in kleinen Kammern die Umgebung der Gewächse erwärmt wird. Mit den Daten werden auch Prognosen über die zukünftige Entwicklung erstellt.
Doch die künstlichen Systeme bilden die Realität schlecht ab: Die gemessenen Klimaeffekte sind vier bis achtmal geringer als jene, die sich bei direkten langfristigen Beobachtungen im Feld ergeben, wie ein internationales Forscherteam am Mittwoch in der Online-Ausgabe des Fachblatts «Nature» berichtete.
Felddaten zeigen grösseren Wandel
Der reale, in der Natur beobachtete Wandel sei somit deutlich grösser als es die Experimente vermuten liessen, erklärte Mitautor Nicolas Salamin von der Universität Lausanne gegenüber der Nachrichtenagentur sda. Der Bioinformatiker hatte der Arbeit Daten über die Verwandtschaftsbeziehungen der Pflanzen beigesteuert.
Das Team, das vom National Center for Ecological Analysis and Synthesis in Santa Barbara (USA) unterstützt wurde, wollte herausfinden, wie gut kurzfristige Experimente die langfristigen Anpassungen wilder Pflanzen an eine wärmere Umwelt abbilden.
Dazu analysierten sie zahlreiche Studien auf vier Kontinenten und mit 1634 Pflanzenarten, die Veränderungen der Blühzeit und des Blattwuchses bei steigenden Temperaturen untersucht hatten. Darunter waren sowohl Experimente wie auch Langzeitbeobachtungen im Freien, etwa bei Bäumen in Botanischen Gärten.
Viele Experimente zeigten viel zu geringe Veränderungen an
Das Urteil war vernichtend: Die vielen Experimente zeigten viel zu geringe Veränderungen an, manchmal sogar umgekehrte Effekte. Wo Feldstudien ergaben, dass ein Grad Erwärmung die Bäume im Schnitt um fünf bis sechs Tage früher blühen lässt, fanden Experimente eine Verzögerung der Blüte. Beim Blattaustrieb fanden die Experimente keinen Unterschied, während im Freien die Bäume früher sprossen.
Genetische Anpassung nicht berücksichtigt
So eine grosse Diskrepanz hätten sie nicht erwartet, sagte Salamin. Vermutlich spielten langfristige Anpassungen der Pflanzen an ein wärmeres Klima eine grössere Rolle als bisher angenommen. «Wenn die Experimente 50 Jahre dauern würde, zeigten sie vielleicht die gleichen Veränderungen», sagte Salamin.
Für die Forschenden steht fest, dass experimentelle Daten derzeit nicht geeignet sind, um Vorhersagen darüber zu treffen, wie sich der Klimawandel auf Ökosysteme auswirkt. Und bereits bestehende Prognosen dieser Daten müssten überprüft werden, schreiben sie.