Landwirtschaftsthemen sind für gewöhnlich heiss umstritten. Das gilt nicht für den Verfassungsartikel zur Ernährungssicherheit, über den das Stimmvolk am 24. September entscheidet: Diese Vorlage bekämpft niemand ernsthaft.
Zwar halten manche den Verfassungsartikel für überflüssig, und die Befürworter streiten untereinander über die Auslegung. Eine Nein-Kampagne ist aber nicht geplant. Das liegt vor allem daran, dass der Artikel zumindest kurzfristig kaum Folgen haben dürfte. Laut Landwirtschaftsminister Johann Schneider-Ammann sind in den nächsten Jahren keine Gesetzesänderungen auf Basis der Bestimmungen vorgesehen. Im Abstimmungsbüchlein heisst es: «Der neue Verfassungsartikel bestärkt die in den letzten Jahrzehnten erfolgreiche Politik des Bundes.»
Auf Druck des Bauernverbandes
Der Artikel beauftragt den Bund damit, Voraussetzungen zu schaffen, um die Versorgung der Schweiz mit Lebensmitteln sicherzustellen. Zustande kam er auf Druck des Bauernverbandes. Die Bauern befürchteten, dass die Agrarpolitik 2014-2017 die einheimische Produktion schwächen würde. Mit einer Volksinitiative wollten sie den Bund daher verpflichten, diese zu stärken.
Dem Bundesrat und der Mehrheit des Parlaments ging das zu weit. Die Gegner warnten vor einer rückwärtsgewandten Agrarpolitik mit mehr Zahlungen, mehr Abschottung vom Ausland und intensiver Produktion auf Kosten der Umwelt. Weil mit einem Ja zur Initiative zu rechnen war, arbeitete das Parlament aber einen Gegenvorschlag aus, der auch Anliegen anderer hängiger Volksinitiativen erwähnt. Der Bauernverband war damit zufrieden und zog seine Initiative zurück.
Unverbindliche Formulierungen
Im Verfassungsartikel, über den nun abgestimmt wird, ist für jeden Geschmack etwas dabei. Die Formulierungen sind jedoch unverbindlich gehalten. So soll der Bund die Voraussetzungen dafür schaffen, dass die landwirtschaftlichen Produktionsgrundlagen gesichert werden, insbesondere das Kulturland. Für den Kulturlandschutz bleiben aber die Kantone zuständig.
Weiter muss der Bund die Voraussetzungen für eine standortangepasste und ressourceneffiziente Lebensmittelproduktion schaffen. Die Land- und Ernährungswirtschaft soll auf den Markt ausgerichtet sein, und grenzüberschreitende Handelsbeziehungen sollen zur nachhaltigen Entwicklung der Land- und Ernährungswirtschaft beitragen. Schliesslich ist der ressourcenschonende Umgang mit Lebensmitteln erwähnt.
Mehr oder weniger Freihandel?
Umstritten ist, ob der neue Verfassungsartikel zu mehr oder zu weniger Freihandel führt. Aus diesem Grund gibt es zwei Komitees, die für ein Ja zum Verfassungsartikel werben. Das zweite wurde von jenen ins Leben gerufen, die dem Bauernverband in dieser Frage nicht die «Deutungshoheit» überlassen wollen, wie es GLP-Nationalrat Jürg Grossen ausdrückt.
Aus seiner Sicht beinhaltet der Verfassungsartikel nämlich eine Absage an Abschottung und Protektionismus, indem er die grenzüberschreitenden Handelsbeziehungen erwähnt. Der Bauernverband dagegen stellt nicht den Handel in den Vordergrund, sondern dass dieser gemäss dem Verfassungsartikel «nachhaltig» sein soll.
Ökologische und soziale Standards
Daraus folge, dass beim Aushandeln von Freihandelsabkommen künftig ökologische und soziale Standards berücksichtigt werden müssten, argumentiert der Bauernverband. Präsident Markus Ritter zeigt sich überzeugt, dass der Verfassungsartikel auf diese Weise Wirkung entfalten wird.
Die EDU wiederum möchte wie der Bauernverband eine starke einheimische Produktion, lehnt den Verfassungsartikel aber aus diesem Grund ab. Wie die Befürworter im GLP-Komitee glaubt sie, dass der Artikel zu einer Öffnung führt, was sie aber im Unterschied zur GLP bekämpft, aus Angst vor Preisdumping.
Keine Nein-Kampagne
Gemäss Schneider-Ammann führt der Verfassungsartikel weder zu mehr noch zu weniger Freihandel. Die Märkte seien heute schon offen, und der Wettbewerb werde zunehmen - unabhängig vom Verfassungsartikel, stellte er fest. Gleichzeitig zeigte er Verständnis für die Ängste der Bauern und versprach, den Sektor einzubeziehen. Die Delegierten der EDU sind die einzigen, die bislang die Nein-Parole beschlossen haben. Laut Parteipräsident Hans Moser wird die EDU ihre Argumente im Abstimmungskampf zwar darlegen, doch ist keine Kampagne geplant.
Dass vor der Abstimmung kaum über Landwirtschaft gesprochen wird, hängt aber auch mit der zweiten Vorlage vom 24. September zusammen, der heftig umstrittenen Rentenreform. Der neue Verfassungsartikel dürfte dennoch angenommen werden. In der ersten Umfrage des Forschungsinstituts gfs.bern im Auftrag von SRF sprachen sich 65 Prozent dafür aus. 17 Prozent waren noch unentschlossen.