Claudia Tschannen aus Illighausen TG führt mit ihrem Mann einen Bauernhof, auf dem sie Agrotourismus betreiben. Es ist inzwischen ihr wichtigster Betriebszweig. Sie managt das Ganze – trotz körperlicher Einschränkung.
Dicker Nebel liegt über den Feldern und drängt sich auch auf den Hof der Familie Tschannen in Illighausen SG. Dieser liegt ruhig da. Kaum etwas regt sich. Nur die beiden Ponys treten in ihrem Aussenngehege hin und wieder von einem Bein aufs andere. Sonst stehen sie stumm da und schauen etwas erstaunt hinter ihren Fransen hervor. Im Winter erwarten sie keine Gäste. Die sind nur im Sommer da. Dann sieht es auch ganz anders aus rund um ihr Gehege. Kinder fahren auf Trettraktoren über den Hof und rennen Bällen hinterher, sie laufen zu den Rindern in den Stall, Jugendliche spielen Pingpong, streicheln Kaninchen und Katzen, Familien entspannen auf dem Sitzplatz und geniessen die Natur nah am Bodensee.
An diesem Tag ist er nicht zu sehen. Und vom Trubel ist nichts zu spüren. Auch Claudia Tschannen, die die meisten Gäste ab den Frühlings- bis zu den Herbstferien willkommen heisst, scheint fast etwas überwältigt von der Stille. «Es ist, als hätten wir zwei Leben», sagt sie am Tisch in ihrer Stube. «Eins im Sommer und eins im Winter. Sie sind ziemlich anders. In den warmen Monaten sind wir fast rund um die Uhr für unsere Gäste da, in den kalten können wir etwas ausruhen und fragen uns manchmal, wie wir das alles geschafft haben», sagt sie und meint damit die Arbeiten rund um den Agrotourismus auf dem Hof Tschannen, den sie und ihr Mann seit zwölf Jahren anbieten.
Eine Vision
Entstanden ist alles aufgrund einer «Vision», wie Tschannen sagt. Ihr Mann habe ihr einen Stauraum in ihrer Remise gezeigt. Durch eine Ritze habe sie auf den Bodensee gesehen. «Wie ein Blitz ist es mir durch den Kopf geschossen, dass wir diese Aussicht verkaufen müssten.» Und dann seien immer mehr Puzzleteile zusammengekommen. Um diese Zeit herum haben sie die Milchwirtschaft aufgegeben. Sie haben den Anbindestall zu einem Laufstall umgebaut und setzten schliesslich auf Aufzuchtsrinder. Heute haben sie deren 50 und arbeiten mit einem Nachbarn zusammen. «Als wir aufhörten zu melken, waren wir auf der Suche nach einem zusätzlichen Standbein», sagt sie. Also haben sie angefangen, Schlafen im Stroh anzubieten. Ihr Mann sei handwerklich begabt und habe viel selbst machen können beim Umbau der heutigen Gästeräumlichkeiten. Sie ist gelernte Diätköchin und konnte den Gästen ein Frühstück anbieten. Sie seien gut gestartet und hätten an jedem einzelnen Gast Freude gehabt.
Damals boten sie 20 bis 25 Plätze fürs Schlafen im Stroh an. Daraus hat sich einiges entwickelt (siehe Kasten «Das Angebot»). Der Agrotourismus ist mittlerweile ihr wichtigstes Standbein und der beste Betriebszweig. Und einer, der ihr Leben stark verändert hat. Die Gäste können bei ihnen teilhaben am landwirtschaftlichen Leben. «Sie dürfen Teil des Hofes sein und in unseren Alltag reinschauen. Sie können bei den Arbeiten zusehen und mitmachen», erzählt Tschannen.
zvg
Schwere Krankheit
Natürlich bedeute die dauernde Präsenz der Gäste jede Saison viel Arbeit. «Aber es würde mir fehlen, wenn keine Gäste mehr kämen», sagt Tschannen. Sie sei ein «Menschen-Mensch» und sei gern um Leute herum. Das müsse man sein, um Agrotourismus anzubieten. Man muss viel organisieren, viel erklären und allgemein viel mit den Gästen reden. Das schätzt Tschannen und wie sie sagt seien über die Jahre viele Freundschaften entstanden. «Diese frage ich jeweils, wie es ihnen wirklich geht.» Als gläubige Christin sei es ihr wichtig, den Menschen nicht nur die Erinnerung an schöne Ferien mitzugeben. «Ich will auch etwas Licht und etwas Salz in ihr Leben bringen.» Das sei wichtig. Beides brauche man zum Leben und zum Wachsen. Viele Menschen könnten es brauchen, wenn sie es gerade nicht so einfach haben.
Auch Claudia Tschannen hat es nicht immer einfach. Als die mittlerweile 42-Jährige 18 Jahre alt war, bekam sie die Diagnose Multiple Sklerose. Eine unheilbare Nervenkrankheit, die in Schüben verläuft. Während sie vor zwei Jahren noch gehen konnte, ist sie heute auf einen Elektroscooter angewiesen. Sie hat eine Mitarbeiterin für Arbeiten, die sie nicht mehr selber erledigen kann. Sie hilft im Haushalt und bereitet das Frühstück aus hofeigenen und hausgemachten Produkten für die Gäste zu. Tschannen managt in der Zeit den Gästebetrieb, wie sie sagt. Ihr Mann kümmert sich um den 23-Hektaren-Betrieb, zeigt den Gästen den Hof und die Zimmer und regelt alles Technische. Sie kümmert sich um die Buchungen, empfängt die Gäste, rechnet ab etc. «Bei mir laufen die Fäden zusammen», sagt sie. Das könne sie gut auch vom Rollstuhl aus. Trotzdem sei es nicht immer einfach, mit ihrer Krankheit zurechtzukommen. Sie brauche viel Zeit für ihre alltäglichen Verrichtungen. «Aber ich bin dankbar, auf dem Betrieb arbeiten zu können. Ich fühle mich gebraucht», sagt sie. «Das ist schön».
Agrotourismus Schweiz
Gebraucht wird sie auch von ihren zwei Söhnen im Alter von 9 und 12 Jahren. Und im Vorstand von Agrotourismus Schweiz. Dort vertritt sie seit sieben Jahren die Anbieterinnen und Anbieter. In dieser Funktion sieht sie in viele Betriebe rein und kann Agrotourismus-Interessierten Tipps geben. Man solle von Anfang an alles gut regeln, was Bewilligungen angehe, sagt sie. Und sich bewusst sein, dass Agrotourismus eine aktive Landwirtschaft voraussetzt. Tiere seien etwa wichtig. Pferde seien bei Kindern beliebt, aber auch Kaninchen oder Kühe gehörten beispielsweise dazu «Wer drei Hühner hat, ist kein Agrotourismusanbieter.» Und: Man müsse Freude an Menschen haben, sonst gehe es nicht, betont sie erneut und zündet eine Kerze an. Ihre Flamme bringt Licht in den düsteren Tag. Aber nicht nur sie. Auch die Begegnung mit Tschannen. Sie wirkt nach, wenn man weg von den Ponys und über die nebligen Felder heimfährt. Und man versteht, warum viele Gäste jedes Jahr wieder auf den Hof Tschannen gehen. Bestimmt nicht nur wegen der Aussicht auf den Bodensee.
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