Weihnachten ist am ehemaligen Dienstbotenheim Oeschberg der wichtigste Tag im Jahr. Mit einer Feier will man den Bewohnern etwas Gutes tun. Doch was, wenn einem nicht nach Feiern ist?
Glitzernd rote Kugeln hängen in der Stube am Baum. Tische und Stühle sind zusammengestellt. Im oberen Stock im Zimmer am Ende des Gangs sitzt Hanni Gerber* auf einem Stuhl vor ihrem Fernsehgerät. Beide Hände hat sie in den Schoss gelegt. Als sie die Schritte hört, schaut sie auf. «Moritz, wir haben Besuch.» Der Igel mit rotem Mund bleibt stumm. «Aber Hans ist es nicht.»
Es ist Weihnachten am Lebensort Oeschberg, noch bekannt als Dienstbotenheim. Eine Zeit, die für die Menschen im Heim besonders schwer ist. Erinnerungen an Tiefschläge plagen sie. Es fehlen Liebe und Menschen, die nicht mehr da sind. Viele der Bewohnerinnen und Bewohner haben keine Angehörigen mehr. Oder sie hatten sie nie. Ihr Leben war geprägt von Arbeit. Arbeit, die Kraft nahm und Kraft gab. Manchmal Orientierung und manchmal auch Sinn.
Am Weihnachtsabend geht es nicht unbedingt darum, fröhlich zu sein. Es geht darum zu spüren, dass man nicht alleine ist. Man singt und isst – zusammen. Dann gibt es Geschenke. Für manche, sind es die ersten überhaupt. Die zerrütteten Familien, aus denen sie kommen, haben kaum Weihnachten gefeiert. Geschweige denn Geschenke verteilt. Am Oeschberg kauft jeder Mitarbeiter seit zwei Jahren einem Heimbewohner zu dem er einen besonderen Zugang hegt, ein Präsent. Nichts Teures, sondern etwas, das passt.
«Schön war das nicht»
Hanni Gerber sitzt am grossen Tisch. Die Schultern hochgezogen, den Blick in sich gerichtet. Sie will nicht hier sein. Hans war ihr Bruder. Der einzige Angehörige, den sie noch hatte. Jahr für Jahr hat er sie zum Weihnachtsfest zu sich nach Hause geholt. Nun ist er tot. Der Verlust schmerzt.
Vorne beim Weihnachtsbaum liest die Pfarrerin aus dem Evangelium vor. Jesus, Maria, die Geburt im Stall. Dann trägt Heimleiterin Pia Zwahlen in Berndeutsch die Weihnachtsgeschichte vor. Manchmal sucht sie nach Worten. Die Bewohner schmunzeln vergnügt. Es wird gesungen. Worte aus dem Liederheft auf dem Tisch: Wie grün die Blätter des Tannenbaums sind. Wie der Schnee gar leise rieselt. Ab und zu zupft Hanni Gerber ihren Pullover zurech. Streicht über die blaue Hose, die sie trägt.
«Singen kann ich nicht. Auch schreiben und lesen nicht. Ich habe es nie gelernt. Nur den Vers vom Stern am Himmel, den habe ich im Kopf. Ich musste ihn hundert Mal vortragen.»
«An Weihnachten erinnere ich mich nur vage. Vater war nie da. Aber Mutter hat gekocht. Chüngel mit Kartoffelstock. Und wir hatten einen Baum. Vater arbeitete als Gipser auf dem Bau. Er war oft betrunken und versoff das Geld. Aber gestritten haben wir an Weihnachten nie. An Weihnachten darf man nicht streiten. Das macht man nicht.»
«Ich habe den Vers aufgesagt. Hundert Mal. Er ist einfach noch da: Am Himmu schynt es Stärndli u strahlt uf mis Laternli, es Lüftli geit ums Schürli, dr Josef macht es Fürli, d Maria rüstet ds Windeli für ihres Jesuschindeli. Ich kann nichts dafür. Entschuldige.»
«Wissen Sie, ich war im Heim. Ich musste weg, warum, weiss ich nicht. Später kam ich auf einen Bauernhof im selben Dorf. Achtundzwanzig Jahre lang. Ich mag mich nicht erinnern. Nur eines weiss ich: Schön war es nicht. Ich hatte eine dunkle Kammer. Es war kalt. Eine Heizung gab es nicht. Zu essen wenig. Nur an Weihnachten, da musste ich runter an den Tisch. Ich hatte keine schönen Kleider, nur einen grauen Arbeitsrock.»
«Ich arbeitete im Haus, im Wald, auf dem Feld und im Stall. Es war harte Arbeit. Von früh bis spät. Auch am Sonntag. Ferien gab es nicht. Irgendwann reklamierte die Gemeinde. Sie hatten gesehen, wie ich die Mistkarre aus dem Stall schob. Frauen durften damals keine Männerarbeit machen. Dann haben sie mich rausgeholt und hierhergebracht. Hier ist es gut.»
Hanni Gerber sitzt immer noch am Tisch. Die Predigt ist zu Ende. Reden mag sie nicht mehr. Sie schleicht hinaus auf den Gang, schaut zu Boden, schlurft aus dem Wohnhaus den mit Kerzen abgesteckten Kiesweg entlang in die Scheune. Am geschmückten Christbaum geht sie vorbei und sitzt an dem mit Läufern und roten Servietten dekorierten Tisch. 32 Männer und sieben Frauen sitzen in warmer Runde. Das Küchenteam schöpft den Dreigänger. Weihnachtlich; Salat mit marinierten Orangen, Rindsbraten mit Kartoffelstock und reichlich Dessert.
Weil die Feiertage für die Bewohner mit vielen schweren Erinnerungen verbunden sind, will man ihnen an diesem Abend etwas Gutes tun. Geborgenheit vermitteln. Alle Mitarbeiter sind anwesend. Sie sitzen mit den Bewohnern am Tisch und nehmen sich Zeit für Gespräche. Nach Hauptgang und Dessert werden die Geschenke verteilt. Fünfzig Franken und etwas Persönliches finanziert aus Spendengeldern. Auf Hanni Gerber wartet ein Kalender mit Bildern von jungen Katzen. «Wir haben einen guten Draht zueinander», sagt Betreuerin Tanja. «Ich pflege sie uns weiss, dass sie Katzen mag. Sie hat viele Katzen-Bilder aufgehängt.»
Anerkennung und Frieden
«Freuen tue ich mich auf die Fünzigernote und die Urkunde», sagt Hanni Gerber. «Das Geld lege ich ins Kässeli, bis es halb voll ist. Dann kaufe ich mir Kleider. Keine Schokolade, die tut mir nicht gut, ich habe Zucker. Nur viele Kleider. Vielleicht eine schöne Bluse oder eine farbige Hose für den Sommer.»
Die Urkunde hängt Hanni Gerber in ihrem Zimmer gegenüber dem Bett an die Wand. Auf dem Papier steht in dicker Schrift geschrieben: In Würdigung ihrer 25-jährigen aktiven Mithilfe auf dem Betrieb und der damit verbundenen Dienste wird Hanni Gerber* für die Treue zum Oeschberg der Lebensort, mit grossem Dank und Anerkennung diese Urkunde überreicht. - Fünfundzwanzig Jahre in der Küche geholfen, die Abwaschmaschine ausgeräumt, Petersilie und Karotten gehackt, die Kübel geleert und die Gänge geputzt - Es ist eine Anerkennung, die sie auf dem Bauernhof in Bollodingen nie erhalten hat. Damals, als sie abgemagert im grauen Rock ins Oeschberg kam und dort einen Ort fand, an dem sie nun zu Hause ist - Mit Hose und Pullover; und ohne Arbeitsrock.
* Name wurde geändert