Während beim Fleisch eine lückenlose Rückverfolgbarkeit vom Ladentisch über den Schlachthof bis hin zum Produzenten möglich ist, gibt es nichts Vergleichbares bei den dabei anfallenden Rinderhäuten. «Mit etwas Glück erfährt man von der Gerberei, aus welchem Land die Rohhäute kamen, die zu Leder verarbeitet in der Schweiz verkauft werden», sagt Nina Conrad. Zudem werden, meist in Italien, fast ausschliesslich Rinderhäute gegerbt, Felle von Schafen oder Ziegen werden hingegen als Abfallprodukte entsorgt.
Eine Praxis, die durch «veganes Leder», das heisst Kunstleder, noch gefördert werde. Dagegen wollte Nina Conrad etwas unternehmen. Sie gründete 2015 zunächst in Zürich eine GmbH und fing an, aus Tierhäuten von biologisch oder biodynamisch geführten Betrieben regionales Leder zu produzieren.
Ausschliesslich mit natürlichen Gerbstoffen, also ohne Schwermetalle oder schädliche Chemikalien. In ihrem Sortiment führt sie auch Leder von Hirschen oder von Rehen, die auf der Jagd erlegt wurden.
Häute von Biohöfen
Zunächst tat sie das alles im Rahmen eines Projekts, das in seiner Startphase vom Bundesamt für Landwirtschaft (BLW) unterstützt wurde. Sie kaufte bei der Centravo, der zentralen Sammel- und Vermarktungsorganisation für Häute und Felle aus der Schweiz, 100 Rinderfelle von Biobauernhöfen und von Mutterkuhbetrieben. Damit begab sie sich auf die Suche nach einer Gerberei und wurde erst mal in der Toskana (I) fündig.
«Dann schaute ich, was man aus dem fertigen Leder machen kann», erklärt Conrad. Manches konnte man gut für Handtaschen nutzen, anderes für kleinere Accessoires wie Gürtel, Armbänder oder Schlüsselanhänger. Als sie schliesslich in Tuttlingen, nahe der deutschen Stadt Singen, einen Familienbetrieb gefunden hatte, der erstklassiges Leder herstellt, zog sie sich aus der Toskana zurück.
Nina Conrad macht z.B. Taschen aus Leder.
zvg
Überzeugt davon, dass Tuttlingen als regional gelten kann, obschon es in Deutschland liegt. Denn es kann mit dem Zug in nur etwa 1,5 Stunden von Zürich aus erreicht werden. Tuttlingen liege sogar näher bei Zürich als Oberdiessbach BE, der Sitz der Firma Neuenschwander AG, wo Nina Conrad die Felle lagert, die sie in der Schweiz sammelt.
Gemeinsam mit der Neuenschwander AG hat sie die Marke Marai entwickelt und aufgebaut, um auch aus Fellen von Schafen und von Ziegen, die bei ihnen lagern und kaum mehr verkauft werden können, Leder herzustellen und daraus neue Accessoires zu designen. Daneben arbeitet Conrad auch mit zahlreichen weiteren Unternehmen zusammen und kleinen Handwerksbetrieben. Auftraggeber sind etwa die Firma «Appenzeller Gurt» oder grössere Schuhmarken.
Bauern gehen leer aus
In Tuttlingen kann sie inzwischen auch Leder von Kleinwiederkäuern gerben lassen. Ziegenleder ist wie Rindsleder robust und reissfest, Gitzileder ist sehr fein und auch für Bekleidung geeignet, Schaf- und Lammleder ist weich und zart. Conrad möchte dabei möglichst allen an der Wertschöpfungskette Beteiligten faire Verdienstmöglichkeiten bieten. Im Bewusstsein, dass Bauern immer noch oft leer ausgehen.
«Ich bekomme immer mal wieder Anfragen von Schweizer Bauern, die mir Felle zur Verfügung stellen wollen», sagt Conrad. Meist scheitere die Idee aber an fehlenden Konservierungsmöglichkeiten. Anders in Deutschland – dort kann Conrad bereits mit ein paar Landwirten zusammenarbeiten, die auf ihrem Betrieb die Möglichkeit haben, nach der Schlachtung Felle zu konservieren, indem sie sie ausbreiten, einsalzen und kühl und trocken lagern. Bis sie innert spätestens sechs bis neun Monaten zur Weiterverarbeitung in die Gerberei gebracht werden können.
«Es gibt auch ein paar wenige Direktvermarkter von Fleisch, die die Felle konservieren. Das Leder kommt später zu mir, ich verarbeite es etwa zu Gürteln und schicke sie den Bauern zurück. Sie verkaufen sie dann in ihren Hofläden», erzählt sie.
Lieferketten vernetzen
Conrad weiss alles über Leder. Sie gibt ihr Wissen auch an Kursen und an Hochschulen weiter sowie als Nachhaltigkeitsberaterin für die Leder- und für die Textilindustrie. Sie will sich nicht nur für Leder, sondern generell für die Herstellung und Nutzung von regionalen und natürlichen Ressourcen engagieren. Dazu zählen auch Rohfasern aus Wolle oder Flachs.
Um den Zugang der Textilindustrie zu solch regionalen und natürlich produzierten Fasern dank der Vernetzung von Lieferketten zu vereinfachen, gehört sie zu den Gründerinnen der internationalen Non-Profit-Organisation Fibershed DACH (D, A, CH) mit Sitz in Bern, der sie gegenwärtig als Präsidentin vorsteht.