Hans steht am Bahnhof. Das Perron tief verschneit. «Kein Mensch käme sonst auf die Idee, bei solchem Wetter zu verreisen», denkt er sich. Das stimmt allerdings nicht ganz. Denn auf dem Perron stehen die Menschen dicht gedrängt. Viele wollen einen Tag vor Heiligabend nach Hause. «Hans, Haaans», ruft es auf einmal. Endlich. Nun ist sie da, seine Sabine. Sie wollte noch unbedingt in irgendeinen Laden im Shopville. Wenn man schon mal in Zürich sei, meinte sie …
Rosige Wangen blieben
Etwas ausser Atem steht sie neben ihm. Seine zuvor nicht gerade allzu gute Laune bessert sich. Wenn seine Sabine etwas erregt und sie ausser Atem ist, bekommt sie rosige Wangen. Und das gefällt Hans noch immer. Wie damals, als sie sich kennengelernt haben beim Skifahren auf der Lenzerheide. Fast wie jetzt ist sie beim Anstehen am Skilift neben ihm aufgetaucht. Etwas ausser Atem, aber auch schon damals mit rosigen Wangen. Nur ein paar Fältchen sind in den Jahren seither dazu gekommen.
Skiferien wie früher
Zu ihrer silbernen Hochzeit hatte sie sich gewünscht, wieder einmal Skiferien zu machen. Auf der Lenzerheide. Wie damals. Dank dem dieses Jahr recht frühen Wintereinbruch fanden sie hervorragende Verhältnisse zum Skifahren vor. Auch das Wetter war die ganzen drei Tage lang wunderschön. Doch nun ausgerechnet bei der Heimfahrt schneit es unaufhörlich. Immerhin sind sie clever genug gewesen, die Skis aufzugeben.
Auch wenn Hans dies zunächst unnötig gefunden hatte. Doch jetzt ist er froh darum. Denn schon der Zug von Chur her hatte eine starke Verspätung. Und nun lässt im Hauptbahnhof Zürich auch der Anschlusszug auf sich warten. Zudem mussten sie im Zug von Chur nach Zürich stehen. «Hoffentlich haben wir dieses Mal einen Sitzplatz», sagt er zu seiner Gattin.
Ein passender Kauf
Doch das sollte ein Traum bleiben. Der Zug ist voll, da zuvor ein anderer ausgefallen war. Nun sitzen sie halt im Eingangsbereich des Doppelstockwagens auf ihren Koffern. «Schau, ich habe uns was eingekauft im Shopville», meint sie und zückt eine Tüte heisse Marroni hervor. Sie weiss, dass Hans diese über alles liebt. Und tatsächlich wird nun seine Laune wieder merklich besser. «Eigentlich ist meine Sabine manchmal fast ein Engel. Doch Sabine ist kein typischer Engelname», denkt er sich.
Das Jassen ist in Gefahr
Endlich fährt der Zug aus dem Bahnhof. Wiederum mit viel Verspätung. Nun wäre das alles ja gar nicht so schlimm, wenn Hans nur rechtzeitig nach Hause kommen würde. Zwar hat Hans’ und Sabines Sohn während ihrer Ferien den Stalldienst übernommen. Und auch heute Abend war er noch im Einsatz. Doch der Abend vor Heiligabend ist Hans auch schon heilig. Denn an diesem Abend trifft er sich stets mit den gleichen drei Kollegen zum Jassen. Noch nie hat einer von ihnen die anderen versetzt. Und nun droht genau dieses Szenario. Er hat ihnen in ihrem Gruppenchat schon mal angekündigt, dass es für ihn vielleicht zeitlich knapp werden könnte.Die anderen kommentierten das sofort mit dummen Sprüchen.
Engel symbolisieren die Verbindung zwischen dem Göttlichen und dem Menschlichen.
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Endlich können Hans und Sabine in den Regionalzug nach Hause einsteigen. Und dieses Mal fährt der Zug sogar fast pünktlich. Sogar ein Abteil zum Sitzen hat das Paar für sich allein. Langsam, aber sicher bekommt Hans nun doch noch eine gute Laune.
Nun noch aussteigen, ins Auto steigen, das am Bahnhof parkiert ist und ab nach Hause. Und gleich danach in den «Sternen» zum Jassen. So der Plan. Doch der Plan bleibt Plan. Denn, nachdem Hans und Sabine ihr Auto halbwegs von einer dicken Schneeschicht befreit haben, will Hans das Auto starten. «Die Batterie ist tot. Unter der Haube regt sich nichts. Ich fasse es nicht!», ruft Hans laut.
Der Weg wäre weit
Auch Sabine ist konsterniert. Sie wäre auch gerne endlich nach Hause gekommen. Und zu Fuss ist der Weg zu ihrem Hof doch recht weit. Erst recht bei diesem Wetter. Es ist einen Moment lang still im Auto, bis Sabine die Stille durchbricht: «Hans, was hast du vorhin genau gesagt?» Dieser schaut sie im Halbdunkel leicht konsterniert an. «Ich habe gesagt, dass die Batterie tot ist, weil sich nichts bewegt unter der Haube», lautet die Antwort.
Ohne zu antworten, steigt Sabine aus, geht um das Auto herum, öffnet auf der Fahrerseite die Türe und entriegelt die Motorhaube. «Willst du mal wieder Automechanikerin spielen? Nur, weil dein Vater eine Autogarage hat?», seufzt der Ehegatte. Er sieht nicht genau, was seine Frau da genau werkelt unter der Haube. Bald einmal knallt sie den Deckel zu, nimmt sich etwas vom Schnee, der noch auf dem Autodach liegt, und wäscht damit ihre Hände. Dann steigt sie ein und sagt nur kurz: «Hans, fahr los!»
Engel bringen Licht in die Dunkelheit und verkörpern Freude und Hoffnung
Pamela Fehrenbach
Dieser schaut sie nur ungläubig an. «Willst du hier Weihnachten feiern?», meint sie lachend zu ihm. Noch immer etwas ungläubig betätigt er erneut die Zündung. Der Motor springt nun nach kurzer Zeit an. Nach einem kurzen Moment der Stille will nun Hans wissen, was Sabine genau gemacht hat unter der Haube. «Das möchtest du jetzt wieder wissen. Du nimmst mich sonst auch nicht ernst, weil ich nicht gelernte Automechanikerin bin, sondern ‹nur› Coiffeuse.»
«Wie mit einem Engel reisen!»
Etwas zerknirscht brummelt Hans «Entschuldigung». Nun erklärt ihm Sabine, was sie genau gemacht hat: «Als du gesagt hast, es bewege sich nichts unter der Haube, da habe ich mir überlegt, dass nicht unbedingt die Batterie das Problem sein muss. Denn auch eine Batterie, die wenig Leistung hat, kann den Alternator noch drehen. Tatsächlich. Ein Kontakt war nicht gut befestigt.»
Natürlich ist Hans nun echt verblüfft. Seine Frau hat ihn mal wieder überrascht. Und er ist sehr froh, sie an seiner Seite zu haben. Als sie zu Hause ankommen und er den Motor abgestellt hat, küsst er sie leidenschaftlich. Und macht seiner Sabine das schönste Kompliment, das sie sich überhaupt vorstellen kann: «Ich bin so froh, dich zu haben. Denn mit dir ist es, wie mit einem Engel zu reisen!»