Vor fünf Jahren verursachten ein Erdbeben und ein Tsunami einen Super-Gau im japanischen Atomkraftwerk Fukushima. Heute hat sich die Lage dort verbessert. Doch Tausende von Arbeitern kämpfen weiter mit grossen Problemen. Trotzdem sollen erste Anwohner zurückkehren.
Zerborstene Betonplatten, grotesk verbogene Stahlstreben, dazwischen ein Kran, der Trümmer aus dem Bereich abgebrannter Brennstäbe beseitigt. Der Anblick des Reaktorgebäudes 3 im Atomkraftwerk Fukushima Daiichi lässt das Chaos erahnen, das sich hier vor genau fünf Jahren abgespielt hat.
Dreifache Kernschmelze
Als an jenem 11. März 2011 ein Erdbeben der Stärke 9 und folgender gewaltiger Tsunami das AKW verwüsteten und es hier zu einer dreifachen Kernschmelze kam, dem schlimmsten atomaren Desaster seit der Katastrophe in Tschernobyl. Nahe einer Anhöhe mit Blick hinunter auf die etwa 100 Meter entfernten Reaktorgebäude 1 bis 3 steigt eine Strahlenanzeige auf über 200 Mikrosievert pro Stunde. Zu gefährlich, um sich hier länger aufzuhalten, auch wenn der Wert vor einigen Jahren noch Hunderte Male höher lag.
«Bitte kommen Sie, wir möchten, dass Sie hier nicht zu lange bleiben», drängt ein Mitarbeiter des Betreiberkonzerns Tepco und führt die Reporter in weissen Schutzanzügen zu einem Bus zurück. «In den vergangenen fünf Jahren ist die Radioaktivität deutlich gesunken und wir können sagen, dass die Lage jetzt stabil ist», versichert der Leiter des zerstörten AKW, Akira Ono.
Wohin mit dem verseuchten Material?
Rund 1200 Tepco-Angestellte sowie zusätzlich 7000 Arbeitskräfte von angeheuerten Vertragsunternehmen sind auch fünf Jahre nach dem Gau tagtäglich in der Atomruine im Einsatz. In erstaunlich vielen Bereichen dürfen sie sich dabei inzwischen ohne Vollgesichtsmasken bewegen. Die völlige Stilllegung des AKW wird noch 30 bis 40 Jahre dauern, bislang seien rund zehn Prozent geschafft, sagte Ono.
Doch eine grosse Frage bleibt: Was soll mit all dem radioaktivem Material geschehen? So dringen täglich Hunderte Tonnen Grundwasser in die Reaktorgebäude und vermischen sich dort mit dem verstrahlten Wasser zur Kühlung der geschmolzenen Brennstäbe. Wo die liegen, weiss auch nach fünf Jahren niemand genau. Grosse Teile des AKW-Geländes sind mit rund 1000 riesigen Tanks übersät, in dem das Wasser nach Durchlaufen eines Filters gelagert wird - schon fast 800'000 Tonnen.
Eiswall aus gefrorenem Boden
In dem Bemühen, die täglich weiter steigenden Wassermassen zu reduzieren, wurde ein Eiswall aus gefrorenem Boden um die Reaktoren gebaut. Doch aus Sorge um ein zu starkes Absinken des Grundwasserspiegels darf Tepco den Wall zunächst nur stellenweise betreiben - ob das etwas bringt, ist unklar. Und dann wäre da die verstrahlte Erde, die in der Umgebung des AKW abgetragen wurde.
Ganze Landschaften sind auch nach fünf Jahren übersät mit grossen schwarzen Plastiksäcken, obwohl ihre Haltbarkeit nur drei Jahre beträgt. Es gibt Berichte über Säcke, die schon gerissen sind. Doch gegen die Einrichtung eines Zwischen- oder gar Endlagers gibt es Widerstand.
Wenig Rückkehrer
Trotzdem erlaubt die Regierung Bewohnern des nahe der Atomruine gelegenen Ortes Naraha, zurückzukehren. Doch nur wenige folgten dem Aufruf. Aus Angst vor der Strahlung, aber auch, weil viele von ihnen inzwischen weit weg ein neues Leben begonnen haben.
Auch der Nachbarort Tomioka soll 2017 freigegeben werden. Derzeit sind Tomioka wie auch das benachbarte Okuma, wo die Atomruine steht, Geisterstädte. «Hier war unser Reisfeld. Das da drüben ist mein Haus», sagt Masumi Kowata. Mit Atemschutzmaske am Steuer ihres Autos fährt sie durch Okuma, vorbei an überwucherten Reisfeldern und verlassenen Häusern, deren Zufahrten mit Gittern abgesperrt sind.
Thema vor Olympia aus der Welt schaffen
«Hier kann man nie wieder leben», sagt Kowata, die noch heute wie Zehntausende andere Flüchtlinge in einer containerähnlichen Behelfsunterkunft wohnt. Bereits Jahre vor dem GAU hatte Kowata, die anders als die meisten ihrer Mitmenschen kein Blatt vor den Mund nimmt, Tepco aufgefordert, das AKW gegen Tsunami zu schützen. Aber sie wurde ignoriert. Heute ist Kowata Stadtabgeordnete. «Wenn man die Bevölkerung unwissend hält, folgt sie Dir», beklagt die ältere Frau.
Die Regierung wolle das Thema vor den Olympischen Spielen in Tokio 2020 aus der Welt schaffen, sagt sie und blickt beim Fahren durch Gebiete, die dekontaminiert werden, auf einen Hügel, wo jemand mit grossen Plastikstreifen das Wort «kaerou» (Lasst uns zurückkehren) geformt hat. «Wiederaufbau da, wo noch Radioaktivität ist? Wie stellen die sich das vor?», wettert Kowata. Schliesslich spüle der Regen immer wieder neue Strahlung von den Bergen und Wäldern heran.
«Das Volk wird für dumm verkauft»
Immer wieder zeigt sie fassungslos auf Arbeiter am Strassenrand beim Dekontaminieren von Böden, ohne dabei Schutzmasken zu tragen. Für viele frühere Bewohner sei das die einzige Möglichkeit, Geld zu verdienen. Und jetzt fahre die Regierung auch noch die ersten Reaktoren im Lande wieder hoch. «Das Volk wird für dumm verkauft. Man informiert die Menschen nicht über die Gefahren», sagt Kowata.
Nach einer kürzlich veröffentlichten Untersuchung unter rund 300'000 Kindern unter 18 Jahren in Fukushima wurde bisher bei 116 Schilddrüsenkrebs diagnostiziert. Bei 50 gebe es einen Verdacht. Doch sei es «unwahrscheinlich», dass der GAU Schuld sei, hiess es. Zugleich betonen Experten, dass der Genuss von Lebensmitteln aus Fukushima, die in den Handel kommen, unbedenklich sei. Die Lebensmittel würden genauestens geprüft. «Sie sind sicher, und das sage ich mit voller Überzeugung», erklärt Ryugo Hayano von der University of Tokyo.
Derweil wird in Kürze in Naraha eine virtuelle Nachbildung des Unglückmeilers in Betrieb genommen. Hier sollen Atomarbeiter üben für den Tag, an dem sie die verstrahlten Reaktoren betreten können. Auf Basis von Originalbauplänen sowie Daten, die Roboter im Inneren der Unglücksreaktoren gesammelt haben, können sie mit Hilfe von 3D-Darstellungen auf einem 3,6 Meter grossen Bildschirm so tun, als würden sie sich im Inneren eines der Reaktoren bewegen.
Brennstäbe unter Meeresboden versenken
Was dann eines Tages mit den geschmolzenen Brennstäben passieren soll, ist jedoch völlig unklar. Es gibt Überlegungen, sie unter dem Meeresboden vor der Küste von Fukushima zu versenken. Noch aber ist nicht einmal geklärt, wo sich der geschmolzene Brennstoff überhaupt befindet.
Und was, wenn es in der Zwischenzeit erneut ein starkes Erdbeben und einen Tsunami gibt? Das sei zwar ein Risiko, wenn auch wenig wahrscheinlich, sagt Tepco-Manager Ono. Doch ein ähnliches Chaos wie vor fünf Jahren werde es nicht noch einmal geben. Dafür sei allein schon die Energie im AKW inzwischen deutlich gesunken.
Am 11. März 2011 verwüsteten ein Erdbeben der Stärke 9,0 und ein gewaltiger Tsunami den Nordosten Japans und verursachten im Kernkraftwerk Fukushima Daiichi einen Super-Gau.


