«Wir verstehen nicht, was gerade in Sibirien passiert». Die Deutsche Welle führte mit dem Klimaforscher Anders Levermann ein Interview über Wetterextreme in Sibirien, welche der Wissenschaft Rätsel aufgeben.
Schlagzeilen über grosse Brände in Sibirien führten nicht nur bei Laien zu Stirnrunzeln. Sibirien verbinden wir mit Kälte, Permafrost und einer baumlosen Tundra. Anfang Juli erklärte der renommierte deutsche Klimaforscher Anders Levermann vom Potsdamer Institut für Klimaforschung (PIK): «Wir verstehen nicht, was in Sibirien gerade passiert. Das ist ein neues Phänomen.»
Temperaturen im Durchschnitt um sieben Grad höher
Im Interview mit der «Deutschen Welle» (DW) wurde nachgefragt, was die Klimaforschenden aktuell so verblüffe. Laut Levermann sei ihnen natürlich bekannt, dass es im Sommer in Sibirien sehr warm werden kann. Sie wüssten auch, dass die globale Erwärmung in arktischen Breiten besonders schnell verlaufe. Aber nun beobachteten sie seit mehr als sechs Monaten Temperaturen, die im Durchschnitt um sieben Grad höher seien, als es in der jeweiligen Jahreszeit sein sollte. Dies verstehe man nicht: Warum hält diese anomale Hitze so lange an? Es sei ein neues Klimaphänomen, das jetzt erforscht werden müsse.
Jetstream mit grösseren Schwankungen
Offensichtlich gäbe es einen Zusammenhang mit der Luftströmung in der Atmosphäre, dem sogenannten Jetstream. Den Jetstream kann man sich als ein Band vorstellen, das sich einmal um die Erde in mittleren Breiten schlingt, etwa auf der Höhe von Moskau und Berlin. Je mehr wir Menschen unseren Planeten erwärmen, desto mehr schwankt dieses Band nach Norden und Süden. Diese Wellen führen weltweit zu Wetterextremen, wie gleichzeitig zu Dürren als auch zu schweren Überschwemmungen.
Schmelzen von Meereis
Levermann wurde gefragt, warum sich aktuell über Sibirien ein so stabiles Hochdruckgebiet mit anhaltender Hitze gebildet habe. Laut ihm könnte das mit dem Schmelzen des Meereises an der Polarküste Sibiriens zusammenhängen, da es ist in diesem Jahr enorm zurückgegangen sei. Das PIK habe Beobachtungen und theoretische physikalische Modellstudien, die das skandinavische Meereis betreffen. Wenn dieses Eis im Winter aufbricht, entsteht dort häufig ein stabiles Hochdrucksystem. Denn wenn es weg ist, wird weniger Sonnenlicht zurück ins All reflektiert, und das erwärmt das Meer und die angrenzenden Gebiete noch stärker. Etwas ähnliches scheine gerade in Sibirien der Fall zu sein. Es sei verblüffend, wie lange das anhält, so Levermann.
Permafrost schmilzt
Die aktuelle Hitze führe jedoch nicht nur zu zahlreichen Waldbränden, sondern auch zu einem weiteren, tieferen Abschmelzen des Permafrostes in Sibirien, was zu Infrastrukturschäden an Pipelines, Straßen, Gebäuden führen könne. Die Gefahr schwerwiegender wirtschaftlicher Folgen wachse. Andererseits setze das Tauen des Permafrostes immer mehr Methan in die Atmosphäre frei, und Methan ist ein vielfach stärkeres Treibhausgas als CO2. Laut Levermann sei das eine langfristige globale Bedrohung, denn steigende Methan-Emissionen in Sibirien würden die Erderwärmung und somit auch den weltweiten Klimawandel beschleunigen, was die Menschheit ja gerade verhindern wolle.