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«75 Tonnen Brotweizen nach Kiew gefahren»

Interview: Anja Tschannen |

 

Landwirt Moritz Stamm ist vor 18 Jahren in die Ukraine ausgewandert und führt dort einen Ackerbaubetrieb. Er berichtet, wie er den Krieg wahrnimmt und was für Auswirkungen dieser bereits für die Landwirtschaft hat.

 

«Schweizer Bauer»: Haben Sie mit dem Einmarsch der Russen gerechnet?
Moritz Stamm: Die Chancen lagen nach meiner Einschätzung bei 1:5. Ich habe nie gedacht, dass es jetzt so schnell ausartet. Ich war einen Tag vor «Kriegsbeginn» noch in Kiew.

 


Wie sieht die Lage im Moment aus?
Die Lage im Moment ist schwierig. Meine Frau, die ursprünglich aus Deutschland kommt, hat mit unseren vier Kindern den letzten Flug aus der Ukraine nach Zürich genommen und ist von dort aus nach Deutschland gereist. Dort bleiben sie wegen der aktuellen Situation vorerst. Zuerst dachte ich, es sei vielleicht übertrieben, im Nachhinein bin ich aber froh, dass sie in Sicherheit sind. Acht meiner Mitarbeiter, darunter auch ältere Männer, wurden in den Krieg eingezogen. Ich habe sie an den Meldeort gefahren. Viele Angehörige der Männer haben geweint, weil sie dachten, dass sie direkt an die Front müssen. Zum Glück wurden sie bisher wie eine Art Zivilschützer in Dörfern eingesetzt und helfen bei der Versorgung und den Transporten. Zurzeit können keine Banküberweisungen gemacht und kein Geld bezogen werden, und die Polizei ist nicht erreichbar. Wir organisieren uns im Moment selber.

 


Was meinen Sie damit?
Die Bewohner richten vor ihren Dörfern Strassensperren ein und kontrollieren jedes Fahrzeug. Die Bewohner haben auf meinem Betrieb Altöl abgeholt, um Molotowcocktails zu machen. Wir hatten ja 2014 bereits eine ähnliche Situation beim Sturz von Viktor Janukowitsch.

 


Inwiefern bekommen Sie sonst vom Krieg etwas mit?
Mein Betrieb liegt in der Region Uman, also ziemlich in der Mitte der Ukraine. Die Stadt Uman liegt 50 Kilometer entfernt und wird jede Nacht bombardiert. Ziel dabei ist es, Einrichtungen wie Radaranlagen, Elektroverteilungen usw. zu zerstören. Die Bomben haben auch schon in Dörfer rund 20 km von uns entfernt eingeschlagen. In der Nacht wird in der ganzen Ukraine das Licht ausgeschaltet, damit wir von den Fliegern nicht so gut geortet werden können. Unser Betriebsareal umfasst 2 ha und ist sonst mit Scheinwerfern beleuchtet – das könnte man in der Nacht mit einer Einrichtung verwechseln, die es zu bombardieren gilt. Am Montag haben wir gratis 75 Tonnen Brotweizen unter Armeeschutz in eine Kiewer Mühle gefahren, um Nahrungsmittelengpässe im belagerten Kiew zu vermeiden. Viele Agrarbetriebe in der Ukraine spenden Produkte.

 


Wie sieht der Arbeitsalltag auf dem Betrieb aktuell aus?
Im Moment bin ich mit meinem Schweizer Angestellten und ein paar Bewachern allein hier, meine anderen Männer wurden wie gesagt in den Krieg eingezogen. Eigentlich wären wir jetzt voll im Getreidehandel, aber aktuell ist alles lahmgelegt. Wir verladen und fahren normalerweise 90 Prozent unseres Getreides und des Öls aus den Ölsaaten nach Odessa, von dort kommt es auf den Weltmarkt und wird grösstenteils nach China verschifft. Odessa ist für die Bauern in der Ukraine ein wichtiger Handelsplatz. Ich habe alle nötigen Betriebsmittel wie Diesel, Pflanzenschutzmittel, Dünger, Saatgut für die Frühjahrsbestellung der Felder zum Glück bereits auf dem Hof, vorläufig könnten wir also noch produzieren. Im Moment schauen wir alle, was die Behörden machen, und versuchen, Informationen zu bekommen. In der Nacht wird das Licht abgestellt und die Tore mit Sattelschleppern verbarrikadiert, damit Plündererbanden nicht ein leichtes Spiel haben.

 


Sie haben sich bereit erklärt für ein Interview – warum?
Ich möchte die Schweizer, insbesondere die bürgerlichen Wähler aufrütteln. Mir tun die tapferen Ukrainer leid. Jahrzehntelang haben sich die Ukrainer bemüht, vom Sowjetsystem weg hin zu einer Demokratie zu kommen. Das war und ist ein schwerer Weg, und es begann nun langsam gut zu werden. Für Aussenstehende ist es sehr schwer, sich das vorzustellen, wie schwierig es ist, von dem kommunistischen Gedanken hin zu einer Demokratie zu kommen. Es ist nicht einfach, unbefangene Leute zu finden. Jetzt ist langsam, langsam eine Generation herangewachsen, die nicht mehr unter dem Druck des Kommunismus steht und die so weit wäre, eine Demokratie weiter voranzutreiben. Nun stehen all die Bemühungen und die harte Arbeit der letzten Jahre auf der Kippe. Die Ukrainer sind in Not, und alle haben Angst davor, in ein altes, russisches System zurückzufallen, das niemand mehr will. Dann ist es nämlich wieder vorbei mit der freien Marktwirtschaft. Es tut mir leid für die Leute hier, die sich so sehr für eine Demokratie angestrengt haben.

 


Inwiefern wollen Sie nun wachrütteln?
Ich selbst und viele Ukrainer sind enttäuscht von der Schweiz. Es ist eine Schande, dass die Schweiz so verhalten mit den Sanktionen gegen Russland reagiert hat, und es regt mich auf, dass sich die SVP, die sich als bäuerliche Partei präsentiert, bei den Sanktionen so querstellte, dabei ist gerade die ukrainische Landwirtschaft darauf angewiesen. Viele Schweizer sind einfach zu verwöhnt und haben noch nie richtige Probleme erlebt.

 

Moritz Stamm ist vor 18 Jahren in die Ukraine ausgewandert.
zvg

 

Die Schweiz wird in der Ukraine zurzeit als eines der lausigsten Länder, welches am wenigsten hilft, wahrgenommen. Aus Bequemlichkeit will man sich hinter dem Vorwand der Neutralität verstecken und eine saubere Weste wahren. In Wahrheit ist das gerade ein riesiger Gesichtsverlust der Schweiz gegenüber der Ukraine und eine sehr schlechte Reklame. Die Schweiz belegt den fünften Platz bei den ukrainischen Importen. Die Ukraine importiert vor allem Pharmaprodukte und Pflanzenschutzmittel aus der Schweiz. Die Schweizer Firmen sind in der Ukraine bekannt. Es sollte also im wirtschaftlichen Interesse der Schweiz sein, einen Partner wie die Ukraine zu unterstützen – vom Menschlichen sprechen wir jetzt nicht mal.

 

Was müsste Ihrer Meinung nach geschehen?
Das Einzige und Effizienteste ist, mit Sanktionen den Druck auf Russland zu erhöhen. Waffen und Armee bringen auf lange Zeit nicht viel, ausserdem wollen die Russen ihr Gesicht wahren. Aus Erfahrung weiss ich, dass die Mentalität von Ukrainern und Russen ähnlich ist, sie lassen nicht mit sich diskutieren und machen am Ende sowieso, was sie wollen. Das Einzige, was hilft, ist Russland durch Sanktionen «aushungern» zu lassen.

 

Seit wann leben Sie in der Ukraine, und was war die Motivation auszuwandern?
Ich bin 2004 in die Ukraine ausgewandert. Ich habe zwei Jahre als landwirtschaftlicher Angestellter gearbeitet, mich dann 2006 selbstständig gemacht und bewirtschafte nun 2900 ha Land (siehe Kasten). Ich stamme ursprünglich aus dem Kanton Schaffhausen, genauer aus Thayngen. Mein Bruder hat den elterlichen Landwirtschaftsbetrieb übernommen, ich hatte immer den Wunsch, auch selbstständig zu wirtschaften, und bin dann in die Ukraine ausgewandert.

 


Wie sah das Leben bisher aus?
Die Ukraine ist von Jahr zu Jahr westlicher geworden. Da es allerdings immer noch sehr viel Armut gibt, brauchten wir schon immer bewaffnete Bewacher. Diese schützen den Betrieb vor kriminellen Banden oder kleineren Diebstählen. Schmiergeldzahlungen sind zwar noch üblich, aber etwa um das 10-Fache zurückgegangen in den letzten acht Jahren.

 


Wie sehen Sie die Zukunft?
Ich befürchte, dass Kiew in den nächsten paar Tagen eingenommen wird. Die Chancen stehen leider nicht besonders gut, gegen eine der grössten Armeen der Welt zu gewinnen.

 


Haben Sie Angst?
Nein, ich selber habe keine Angst, muss aber beim Betrieb bleiben, damit nicht alles geklaut wird.

 

Wie sehen Sie die Zukunft Ihres Betriebs?
Ich denke, mit dem Betrieb geht es auf alle Fälle weiter. Falls die Russen das Land besetzen, wird es ein Rückfall in graue alte Zeiten wie vor 25 Jahren.

 

Betriebsspiegel

 

Fläche: 2900 ha LN
Betriebszweig: Ackerbau
1100 ha Mais
800 ha Sonnenblumen
600 ha Weizen
400 ha Raps
Angestellte: 8 Traktorfahrer, 9 permanente bewaffnete Bewacher, 5 Buchhalterinnen, 1 Elektriker, 1 Schweisser. ats

Kommentare (1)

Sortieren nach:Likes|Datum
  • W. Müller | 08.03.2022
    Was uns zu denken geben muss wenn wir das lesen von diesem Bauer in der Ukraine der den Krieg 1 zu 1 hört.

    Ich denke, mit dem Betrieb geht es auf alle Fälle weiter. Falls die Russen das Land besetzen, wird es ein Rückfall in graue alte Zeiten wie vor 25 Jahren.
    Und jetzt haben wir das Problem mit dem Import von Futtermittel für unsere Landwirtschaft weil die Landwirtschsftpolitik hier versagt hat.
    Danke an die immer wieder hochgelobten Bürgerlichen Politiker und auch ex BR mit den Skrupellosen

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