Das Präsidiumsmitglied des Ukrainian Agribusiness Club (UCAB), AlexLissitsa, äussert sich im Interview über die Lage der Landwirtschaft in der Ukraine, den Überlebenskampf der Menschen und der Betriebe und seine Hoffnung in Zeiten des Krieges
Alex Lissitsa, welche Aufgabe hat der von ihnen vor 15 Jahren gegründete Ukrainian Agribusiness Club?
Meine Idee damals war, die grossen Agrarunternehmen in der Ukraine zusammenzubringen und für sie eine Plattform zu schaffen, ihre Erfahrungen auszutauschen und ihre Positionen abzustimmen, um gemeinsam gegenüber der Regierung auftreten zu können.
Wer sind die Mitglieder?
Am Anfang waren es nur ukrainische Agrargesellschaften. Später sind ausländische Unternehmen hinzugekommen, das erste war die deutsche KWS. Mittlerweile hat der Club 130 Mitglieder, darunter die rund 70 grössten Agrargesellschaften des Landes. Sie bewirtschaften fast 7 Mio. ha Land. Das entspricht einem Anteil von etwa einem Viertel der landwirtschaftlichen Flächen in der Ukraine. Der Mitgliederkreis umfasst auch den vor- und nachgelagerten Bereich, inklusive der Verarbeitung. Ebenfalls dabei ist der grösste Geflügelfleischproduzent in der Ukraine.
Welche Aufgaben haben der Verband und andere Agrarverbände in Zeiten des Krieges?
Nachdem der erste Schock des Angriffs überwunden war, haben alle Verbände in den ersten Wochen fast ausschliesslich humanitäre Aufgaben übernommen. Wir haben geholfen, die Nahrungsmittel in den okkupierten Städten und anderenorts zu verteilen, wo Bedarf war. Im Sommer hat die Armee viele Anfragen an uns gerichtet. Wir haben uns um militärische Ausrüstung gekümmert. Das reichte von Schutzwesten und Helmen bis zu Leichensäcken, die ich in Deutschland gekauft habe. Wir haben immer wieder das Geld zusammengebracht und Transporte organisiert, für alles Mögliche. Von klassischer Lobbyarbeit ist im Moment nicht mehr die Rede.
Sie sind Chef einer grossen Agrarholding, der IMC. Wie ist das Unternehmen aufgestellt, wie ist es ihm seit Beginn des Krieges ergangen?
Wir bewirtschaften rund 120’000 ha Land, verfügen über sechs Siloanlagen mit einer Gesamtlagerkapazität von 550’000 t und betreiben eine Milchviehanlage mit 1’000 Milchkühen. Unsere Betriebe liegen im Norden und der Zentralukraine. Bis auf einen waren alle Betriebe in den ersten vier Kriegstagen okkupiert. Wir hatten keinen Zugang zu unseren Büros, zu unseren Konten, zu unserer Technik und fast allen unserer Silos.
Wer waren die Besatzer?
Die Soldaten waren teilweise aus Sibirien, Angehörige ethnischer Volksgruppen aus weit abgelegenen Landesteilen in Russland. Die sind zum Teil brutal vorgegangen, angefangen von Diebstählen über Zerstörungen bis hin zu Vergewaltigungen. Schon am dritten Tag fehlten ihnen Nahrungsmittel und Wasser. Was sie brauchten, haben sie sich geholt.
zvg
Gab es Gewaltexzesse?
Ja! Es hat Tote gegeben, auch unter unseren Mitarbeitern.
Was war Ihre Aufgabe?
Ich war bei Beginn des Angriffs in Kiew und bin dann zunächst Richtung Lwiw gefahren. Der Arbeitstag begann bei mir mit der simplen Frage im Chat mit 36 leitenden Angestellten, wer nicht mehr am Leben ist. Jeden Tag fehlte jemand. Das war eine heftige Herausforderung für uns alle. Die Kämpfe waren im Norden von Kiew, an der Grenze zu Chernihiv. In den 44 Tagen, in denen dieses Gebiet besetzt war, war unsere Milchviehanlage komplett von der Versorgung abgeschnitten. Der Veterinär ist auf dem Weg zur Anlage, die zu den modernsten im Land gehörte, ermordet worden. Es gab keinen Strom.
Wie haben Sie den Betrieb aufrechterhalten?
Unsere Mitarbeiter haben versucht, die Tiere mit den Händen zu melken. Milchverkauf ging gar nicht mehr, die Milch haben unsere Leute in den Dörfern verschenkt. Als wir nach dem Abzug der Russen zurückgekommen sind, war von der Herde praktisch nichts mehr übrig. Einige Tiere waren verendet, andere krank. Wir haben die übrig gebliebenen Tiere schlachten müssen. Endgültig ist die Milchviehanlage am 1. September geschlossen worden. Ähnliches gilt für eine grosse Siloanlage am Rand der Stadt Chernihiv mit 100’000 t Getreide. Die ist von 46 Raketen getroffen worden. Die Anlage aus Sowjetzeiten ist schwer beschädigt, steht aber noch. Immerhin konnten wir 76’000 t Mais retten. Mit Hilfe der ukrainischen Armee haben wir alle Raketen rausholen können.
Wie funktioniert der Transport?
Um die Stadt Chernihiv herum, meine Heimatstadt, führt ein Fluss namens Desna. Die Eisenbahnbrücke über die Desna ist zerstört worden. Inzwischen ist sie weitgehend repariert und der Transport läuft wieder. Allerdings können nicht wie früher Züge mit 55 Waggons über die Brücke fahren, sondern nur mit fünf oder sechs Waggons, da sie ansonsten zusammenbrechen könnte. Wir haben einiges abtransportieren können, haben aber noch Mais aus 2020/21.
Sind Ihre Flächen nutzbar?
In dieser Region haben wir knapp 32’000 ha. Die waren zum Teil vermint. Hinzu kommt, dass die Russen Minen an allen möglichen Stellen liegen gelassen haben, angefangen von Landstrassen bis in irgendwelchen Wäldern und Feldern. Es gab auf den Feldern viele Reste von Raketen, von denen man nicht wusste, ob die explodiert sind oder nicht. Es hat noch einmal vier Monate gedauert, diese Felder zu räumen.
Komplett?
Wir dachten im Sommer, dass wir durch sind mit Hilfe der ukrainischen Armee. Wir wollten dann noch 3’000 ha Weizen ernten, bis wir von unserer Armee erfahren hatten, dass sie dieses Gebiet vermint hatte. Mittlerweile wissen wir, wo die Minen liegen. Unsere Mitarbeiter wissen, wo sie auf dem Feld hinfahren dürfen und wo nicht.
Aktuell wird die Ukraine mit Raketen- und Drohnenangriffen überzogen. Wie erleben Sie das?
Wir haben auf dem Handy ein Programm das Luftalarm anzeigt. Die Raketen und Drohnen fliegen aus allen möglichen Ecken und man weiss nur eine Richtung. Es muss schnell vorbereitet werden, was man bei Alarm mit der Technik macht. Das ist ein Riesenaufwand.
Das Video von SRF wurde Anfang April 2022 produziert.
Sie hatten nach meinen Informationen zu Kriegsbeginn 2’000 Mitarbeiter. Wie ist der Stand heute?
200 sind bereits zu Kriegsbeginn eingezogen worden. Zwar wurden dann landwirtschaftliche Betriebe zunächst für sechs Monate von der Mobilisierung freigestellt. Diese Frist ist aber mittlerweile abgelaufen. Ausserdem gilt die Freistellung nicht für Mitarbeiter unter 35. Die werden jetzt zunehmend eingezogen. Mittlerweile sind schon 400 unserer Leute bei der Armee. Gerade bei uns in der Grenzregion ist es sehr schwierig, überhaupt Arbeitskräfte zu finden. Wir greifen inzwischen auf Rentner zurück, die für die Feldarbeit geeignet sind.
Ist es bislang gelungen, den Betrieb am Laufen zu halten?
Ja, der Betrieb läuft, auch wenn ich im August gedacht habe, dass wir auf Stand-by gehen sollten, weil wir nicht mehr wussten, wohin mit dem Getreide. Wir haben in dieser Zeit 10’000 t bis 15’000 t pro Monat exportiert. Normalerweise sind es zwischen 80’000 t und 100’000 t. Alles war alles voll mit Getreide. Es gab die Überlegung, zunächst nicht weiter anzubauen und stattdessen in den nächsten fünf bis sechs Jahren Lagermanagement zu machen und nur zu verkaufen. Wir haben dann beschlossen, doch weiter zu machen. Wir können nicht die Arbeit auf den Feldern einstellen, während die Armee an der Front kämpft. Rund 80 % der Devisen werden derzeit vom Agrarsektor erwirtschaftet. Von unserer Arbeit hängt die ganze Volkswirtschaft ab. Wir sind auch ein Vorbild für viele andere Betriebe im Land. Hätten wir unsere Produktion eingestellt, wäre das ein verheerendes Signal gewesen. Wir machen also mit Vollgas weiter.
Was bedeutet das?
Das bedeutet zum Beispiel, dass wir den Winterweizenanbau von 17’000 ha im letzten auf 33’000 ha in diesem Jahr fast verdoppeln.
Warum?
Aus zwei Gründen. Zum einen müssen wir das Saatgut nicht unbedingt kaufen, sondern können auf unsere Vorräte zurückgreifen. Zum anderen wird Winterweizen in der Ukraine im nächsten Jahr knapp. Die ukrainischen Landwirte werden nicht in der Lage sein, die Aussaat vom letzten Jahr zu wiederholen. 2022 wurde in der Ukraine auf rund 6 Mio. ha Winterweizen angebaut. Geerntet wurden etwas über 30 Mio. t. Davon sind 10 Mio. t für den Eigenverbrauch, der Rest geht in den Export. Nach den aktuellen Zahlen liegt die Anbaufläche in diesem Jahr nicht mehr bei 6 Mio. ha, sondern bei lediglich 1,8 Mio. ha.
Wie welchem Ertrag rechnen Sie?
Wenn wir mit einem Durchschnittsertrag von bestenfalls Fall 5 t pro Hektar rechnen, kommen wir auf eine Gesamternte von 9 Mio. t. Wir müssen sehen, wie der Winter wird und wie viele Düngemittel im Frühjahr zur Verfügung stehen. Ich glaube aber nicht, dass die Ukraine im nächsten Jahr in der Lage sein wird, Weizen zu exportieren. Damit könnten 2023 rund 10% vom globalen Handel ausfallen. Das meine ich, wenn ich sage, die Lage unserer Landwirtschaft ist katastrophal.
zvg
Wie ist die wirtschaftliche Lage der Betriebe?
Die Liquidität der ukrainischen Landwirte ist derzeit so schlecht wie seit vielen Jahren nicht mehr. Wenn wir es im Frühjahr geschafft haben die Felder zu bestellen, war das nur möglich aufgrund der hervorragenden Ergebnisse im Vorjahr. Viele Betriebe haben 2021 Spitzenerträge und Spitzenergebnisse erzielt. Das ist jetzt aufgebraucht. Inzwischen verkaufen wir unser Getreide zu Preisen unterhalb der Kosten. Es ist gut, dass durch den Grain Deal überhaupt Bewegung in den Markt gekommen ist, nachdem in den ersten Monaten nach Kriegsbeginn so gut wie nichts exportiert wurde. Aber wir gehen klar ins Minus.
Woran liegt’s?
Zu Buche schlagen vor allem die enormen Transportkosten. Das gilt sowohl für den Transport mit dem Zug als auch per Lkw. Früher lagen die Kosten für den Transport von Chernihiv nach Odessa mit dem Zug bei 25 Euro/t (25 Fr.). Jetzt rechnen wir mit 75 Euro/t (75 Fr.). Die Weizenpreise sind für die Ukraine, auch in Odessa, deutlich nach unten gegangen, weil die Versicherungen und die Fracht teurer geworden sind. Wenn der Preis in Ravenna 320 Euro/t (320 Fr.) beträgt, liegen wir in Odessa bei 210 Euro (210 Fr.). Wenn wir von 210 Euro noch 75 Euro Transportkosten abziehen, dann kommen wir auf ein Ergebnis von 130 Euro bis 140 Euro die Tonne (130 bis 140 Fr.). Die Vollkosten belaufen sich aber bei mir auf 170 Euro bis 180 Euro (170 bis 180 Fr.) die Tonne. Ich habe also unter dem Strich ein Minus von 40 Euro (40 Fr.).
Wie gehen Sie damit um?
Es geht ums Überleben. Ich habe für mich in den letzten sieben Monaten gelernt, dass der Krieg keine Logik hat. Ich habe einen Zeitplan oder einen Planungshorizont von zwei Wochen. Ich muss also in zwei Wochen alles tun was möglich ist, weil ich nicht weiss, was nach den zwei Wochen kommt. Ich verkaufe so viel wie möglich, weil ich nicht weiss, ob nach diesen zwei Wochen der Grain Deal mit den Russen noch funktioniert. Putin möchte mehr Düngemittel und Getreide aus Russland verkaufen und hat angekündigt, den Grain Deal nicht zu verlängern, wenn die Partner seine Bedingungen nicht erfüllen. Schon jetzt bekommen wir für den November keine Schiffe mehr, weil keiner weiss, wie es weitergeht. Wir müssen also jetzt verkaufen, was geht.
Haben die Betriebe Zugang zu Krediten?
Es wird schwieriger, weil die Banken auch nicht mehr so wahnsinnig viel Geld, die ukrainischen gar kein Geld mehr haben. Landwirte bekommen von ukrainischen Banken nur dann Kredite, wenn der Staat für die Absicherung sorgt. Abgedeckt sind 150 Mio. Euro. Der Bedarf liegt aber bei über 10 Mrd. Euro (10 Mrd. Fr). Das heisst, da geht nichts. Mit den ausländischen Banken, die in der Ukraine arbeiten, kann man Absprachen treffen, dass man die Tilgung von Krediten aus dem letzten Jahr aussetzt. Neue Kredite bekommt man gar nicht. Inzwischen verlangen aber sogar ausländische Banken peu-á-peu, Kredite wieder zu bedienen. Die Zinsen steigen, von 2,5 % bis 3 % im vergangenen auf etwa 5 % in diesem Jahr. Damit kommen wir noch gut davon. Andere Unternehmen sind schon glücklich, wenn sie 14 % oder 15 % angeboten bekommen.
Von welchen Grössenordnungen reden wir, wenn die Ukraine in die Lage versetzt werden soll, weiter zu exportieren
Wir reden jetzt von 20 Mio. ha, die bewirtschaftet werden sollen. Angenommen pro Hektar müssen zwischen 700 Euro oder 800 Euro finanziert werden, geht es um eine Summe zwischen 14 Mrd. Euro und 16 Mrd. Euro, die jetzt fehlt.
Die Agrarstruktur in der Ukraine sehr unterschiedlich. Sie reicht von Holdings wie in Ihrem Fall über Unternehmen mit bis zu 2 000 ha bis hin zu Hauswirtschaften. Wie stellt sich die Situation in den einzelnen Segmenten im Moment dar?
Das ist sehr unterschiedlich und nicht vorrangig von der Grösse oder der Struktur abhängig, sondern von der Region. Die Betriebe nahe der russischen Grenze haben durchweg Probleme. Alle kämpfen ums Überleben. Im Süden und Osten ist die Lage katastrophal. In der Westukraine funktioniert es noch ganz gut. Die Liquidität ist aber bei allen das Problem. Knackpunkt wird im Frühjahr die Kapitalbeschaffung sein. Die kleinen und mittleren Betriebe, also Betriebe bis 2’000 ha, haben aus unterschiedlichen Gründen nie Bankkredite genommen, sondern über Landhandelsunternehmen finanziert, 30 % Vorkasse, 70 % nach der Ernte. Das funktioniert jetzt nicht mehr.
Wie ist die Lebensmittelversorgung auf dem Lande und in den Städten?
Mittlerweile ist es deutlich besser geworden. Alle Nahrungsmittel, die man braucht, kriegt man auch. Wir haben vom Agribusiness Club im Frühjahr eine Initiative mit dem Namen «Borschtsch» gestartet, wo wir mit Hilfe von Saatgutfirmen über 150’000 Päckchen mit unterschiedlichen Samen und Saatgut an Hauswirtschaften verteilt haben. Inzwischen haben sie im Garten oder auf kleinen Parzellen etwas ernten können. Hauswirtschaft spielt eine wichtige Rolle bei der Versorgung mit Gemüse oder Obst. Wenn wir die nicht hätten, wäre es noch schlimmer gekommen. Man darf nicht vergessen, dass Cherson das Tomatenanbaugebiet der Ukraine und Mariupol das Kirschenanbaugebiet ist.