Tiefrot gefärbt ist nicht nur die Waldparzelle von Thomas Michel auf dem vor ihm liegenden Plan – rot ist auch sein Kopf und zwar vor Wut. Der 58-jährige Landwirt aus Brienz ist aufgebracht. Sein Stammbaum reiche bis ins Jahr 1603 zurück, und bis vor eineinhalb Generationen hätten seine Vorfahren von den Erträgen aus ihrem Wald leben können, sagt der Waldbesitzer.
Heute lebt Michel von seinem Landwirtschaftsbetrieb. Seine 40 ha LN und die Anteile Axalp bewirtschaftet er biologisch, hält 70 Stück Weidemast- und Vertragsrinder. Seine 16 ha Wald, der zum grössten Teil als Schutzwald eingetragen ist, liefern ihm kein Einkommen mehr. Er ist froh, wenn er die Kosten für einen Holzschlag mit der Seilkranförderung gedeckt bekommt. «Solange ich nicht draufzahlen muss, ist es mir egal, aber es zeigt eben auch hier den Wertzerfall der Urproduktion», beklagt Michel.
Mit den Forstrevieren Oberried und Brienz hat er einen Bewirtschaftungsvertrag für seinen Wald. Seine Waldparzelle mit dem Flurnamen Mühleberg liegt oberhalb des Weilers Ebligen in der Gemeinde Oberried und schützt als Schutzwald den Weiler und die Infrastruktur am Brienzersee vor Lawinen, Hangrutsch oder Murgängen.
«Ich hatte den Aufstieg, die Einsatzdauer und die Hitze unterschätzt.»
Vor 14 Jahren war der Mühlebergwald ein Teil eines grossen Seilholzschlags mit 2300 Kubikmeter Fläche. Durch diesen Schlag sollten die überalterten Bestände entfernt werden, um Licht und Platz für eine neue Generation zu schaffen. Da es sich beim Bestand praktisch zu 100 Prozent um Fichten handelte, sollte die Naturverjüngung mit dem gezielten Setzen von Bergahorn und Weisstannen ergänzt werden, um einen widerstandsfähigen Bestand zu etablieren.
Thomas Michel wollte beim Setzen unbedingt dabei sein und erinnert sich noch gut an den Tag. «Ein Helikopter hat das Pflanzgut und das Werkzeug hochgeflogen, und wir gingen von unten zu Fuss hoch. Ich hatte den Aufstieg, die Einsatzdauer und die Hitze an diesem Südhang total unterschätzt und viel zu wenig zum Trinken mitgenommen. Deshalb habe ich an diesem Tag wirklich gelitten.»
«Letztes Jahr ging ich mit meiner Frau da hoch, und da war nichts zu sehen, was den Namen Jungwuchs verdient hätte. Ganz zu schweigen von Bergahorn oder Weisstannen. Dieser Setztag, dieser Murks und dieser Durst, ja eigentlich auch der ganze Holzschlag, alles umsonst», regt sich Michel auf.
Seine Wahrnehmung wird offiziell bestätigt, und er zeigt den Brief, der vom Amt für Wald und Naturgefahren bei ihm eingetroffen ist. In der Auswertung des «Wald-Wild-Konzepts Schwarzhorn 2024» ist seine Parzelle dunkelrot eingefärbt. Gemäss dem kantonalen Wildgutachten ist die Verbisssituation bei ihm in einem untragbaren Zustand. «Naturverjüngung gleich null und was wir gesetzt haben, gleich null», stellt Michel wütend fest.
Junge Weisstannen und Ahorn sind beim Wild beliebt, aber was kann man tun gegen den Verbiss? Die jungen Bäume einzeln vor dem Wild schützen, bringt laut Michel wenig, denn im Winter würde der Schnee den Schutz hinunterdrücken, und ein grossflächiges Einzäunen sei an diesem Ort illusorisch.
Hirsche sind das Problem
«Und nachher kommen da irgendwelche Forstingenieure und Biologen, die sagen: ‹Es ist gar nicht so schlimm, im Kanton Bern betrifft das nur 15 Prozent der Waldfläche.› Ja, das kann sein, aber das ist hier unser Schutzwald», erzürnt sich Michel. Die Probleme wollen «die» gar nicht sehen, fährt er fort. Seit 2008 sei x-mal von Seiten des Waldbesitzervereins Interlaken-Oberhasli darauf hingewiesen worden, dass der steigende Hirschbestand im östlichen Oberland unweigerlich zu Problemen führen werde.
«Die Verwaltung hat dazu eine spezielle Rezeptur.»
Und Michel fährt fort: «Das absolute Spezialgebiet der kantonalen Verwaltung in Bern ist das Verwalten von Problemen!» Seitdem er als Kassier des Waldbesitzervereins Interlaken-Oberhasli an vorderster Front dabei sei, sei dies nun das sechste Gutachten oder Konzept zur Wald-Wild-Problematik, und er glaube, dass es nicht das letzte sein werde.
«Die Verwaltung hat dazu eine spezielle Rezeptur», erklärt Michel. «Man nehme mindestens eine A4-Seite, am liebsten zwei oder drei und fülle sie mit den Zutaten nachhaltig, miteinander, gemeinsam, mit Geduld, auf Augenhöhe und zukunftsgerichtet. All das kommt in einen nichtssagenden Text, und fertig ist das neue Konzept.» Schaut man sich die strategischen Ziele im Wald-Wild-Konzept Schwarzhorn 2024 an, so heisst es unter Punkt 4: Alle relevanten Akteure leisten ihren Beitrag. Die Zusammenarbeit basiert auf gegenseitigem Verständnis und auf Partnerschaft.
Und zum Schluss heisst es: «Es braucht eine motivierte Umsetzung der Massnahmen und Zeit und Geduld!»
Im Konzept werden u. a. Massnahmen vorgeschlagen, um die Waldgebiete mit untragbaren Wildschäden aufzuwerten. So soll die artenreiche Verjüngung im Rahmen von Pflegemassnahmen gefördert werden. Das soll durch 80 ha Schutzwaldpflege pro Jahr erreicht werden. Weiter wird für den Wald die technische Wildschadenverhütung angesprochen, also Schützen von Pflanzungen.
Bei der Parzelle von Michel, und da ist er wohl nicht alleine, ist das keine erfolgversprechende Option. Dann folgt der Vorschlag, das Äsungs- und Deckungsangebot zu erhöhen. «Alles gut und recht. Aber nur in Kombination mit einer drastischen Bestandessenkung, sonst wirkt das kontraproduktiv», meint der 58-Jährige.
Das jagdplanerische Ziel des Kantons ist auch die Bestandessenkung. «Die Erhöhung des Abschusssolls ist notwendig», heisst es dort, wobei das Soll bereits in den Jahren 2022 und 2023 nicht erreicht wurde.
Thomas Michel hat sich dazu Gedanken gemacht. Seine Forderungen lauten: Anpassungen beim Jagdgesetz. Der Hirschbestand wird über die Hirschkühe bestimmt. Wenn aber hohe Bussen drohen, wenn Jäger und Jägerinnen eine Hirschkuh mit säugendem Jungen erlegen, zielt man im Zweifelsfall lieber auf die männlichen Tiere. Ausserdem sollten Banngebiete temporär für die Hirschjagd geöffnet werden – und das so lange, bis der Bestand auf ein für den Wald erträgliches Mass gesunken ist.
Verband hat Forderungen
Nach der Veröffentlichung des neuen Wildschadengutachtens im Januar äusserte sich auch der Verband der Berner Waldbesitzer. Seine Forderung ist deutlich, und er unterstreicht das Anliegen von Thomas Michel. Der Verband fordert eine Abkehr der bisherigen Art und Weise, wie der Kanton auf Wildschäden-Gutachten reagiert.
«Es müssen langfristige und klare Ziele für tiefere Schalenwildbestände festgelegt werden, um die dringend benötigten Verbesserungen der Wildschadensituation endlich zu erreichen», heisst es in einer Stellungnahme. Es bleibt abzuwarten, ob es für den Schutzwald von Thomas Michel eine (schnelle) Rettung gibt.
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