Ziegenhalter Jon Paul Thom führt die Ziegen durch Ardez im Unterengadin. – zvg
Letztes Jahr begann Coop damit, über den Online-Kanal «Pro Montagna Bio-Gitzifleisch aus den Bündner Bergen» zu verkaufen – zu einem stolzen Preis. Ziegenzüchter Jon Paul Thom aus Ardez profitiert nun vom Erfolg.
In Erinnerung an den Auszug der Israeliten aus der Sklaverei in Ägypten wurde Lamm- oder Gitzifleisch zum Passah zunächst im jüdischen Glauben zu einer Tradition. Zum Ende der 40-tägigen christlichen Fastenzeit nach Aschermittwoch hielt die Tradition auch hier Einzug. Dass an Ostern Lamm oder Gitzi gegessen wurde, lag aber auch daran, dass sich Bauern jahrhundertelang kein anderes Festmahl leisten konnten – Osterlamm und Ostergitzi standen damit schon bald im Ruf, ein üppiges «Arme-Leute-Festessen» zu sein.
Kein «Arme-Leute-Essen»
Heute ist Gitzifleisch längst kein «Arme-Leute-Festessen» mehr. Im Gegenteil – es wird allmählich zu einer kulinarischen Rarität. Coop verkauft «Pro Montagna Bio-Gitzifleisch aus den Bünder Bergen» als 3-Kilo-Mischpaket zu einem stolzen Preis von Franken 49.50 pro Kilo. «Unser Gitzi-Angebot ist oberste Liga», meint Bruno Cabernard, der als Geschäftsleiter der Coop Patenschaft für Berggebiete das Berggitzi-Projekt vor etwas über einem Jahr mitinitiiert hat. Mit grossem Erfolg, obschon das Gitzifleisch nur online bestellt, d.h. in keinem Laden gekauft werden kann.
Nutzniesser sind Ziegenzüchter aus Graubünden wie Jon Paul Thom aus Ardez im Unterengadin. Er selbst hält nebst Black-Angus-Mutterkühen und ein paar Schafen, etwas mehr als ein Dutzend reinrassige Bündner Strahlenziegen, und das schon seit über 40 Jahren. «Damals war Gitzifleisch so gefragt, dass wir auch höhere Gewichte produzieren konnten», erinnert sich Thom.
Doch schon bald fielen die Preise rasant ins Bodenlose, bis ein Gitzi nicht mal mehr 100 Franken wert war. «Es war traurig, dass ein Tier, das sein Leben lässt, um uns zu ernähren, nicht mehr geschätzt wurde, nur weil Import-Gitzi billiger waren», bedauerte Thom. Doch war es in einer Randregion wie dem Unterengadin auch nicht leicht, private Absatzkanäle zu erschliessen. Dann kam noch das Vorurteil hinzu, Gitzifleisch «böckele», und schliesslich auch die Verniedlichung der herzigen Gitzi, sodass sie von Konsumenten zunehmend nicht mehr als Nahrungsmittel wahrgenommen wurden. «Viele Leute verstanden nicht, dass, um Milch für die zunehmende Nachfrage nach Ziegenkäse zu produzieren, auch Gitzi geboren werden müssen», erklärt Thom.
Produziert auch Käse
Auch Thom produziert Ziegenkäse. Im Sommer nimmt er Ziegen von 16 weiteren Engadinern mit auf die Alp Valmala, wo er den Käse direkt vermarktet. Konsumentinnen können einen Sommer lang Götti oder Gotte einer Ziege sein. Doch davon konnte Thom vor 23 Jahren, als er seine Ziegen erstmals (aber trocken) auf die Alp brachte, nur träumen. Weil sie früher vom Bock gedeckt wurden, kamen die Gitzi oft schon im Dezember zur Welt. Je nachdem, ob Ostern früh oder spät war, brachte er überschwere Gitzi zur Annahme, für die er einen Abzug hinnehmen musste.
Deckt Ziegen im August
Inzwischen deckt auch Thom seine Ziegen erst im August, damit zu Beginn der Alpsaison genug Milch zum Käsen da ist. Seine Gitzi kann er nun mit einem höheren Lebendgewicht von 16 bis 18 Kilo zum Schlachthof bringen, was etwa 7 bis 9 Kilo Schlachtgewicht entspricht. Er ist nicht mehr darauf angewiesen, sie möglichst in der Woche vor Ostern zu schlachten, weil dann der beste Preis gilt. Denn obschon auch bei Coop ein grosser Teil der Gitzi vor Ostern verkauft werden, sind sie heute das ganze Jahr über gefragt. Indem das Gitzifleisch tiefgekühlt zum Verkauf angeboten wird, können die Gitzi geschlachtet werden, wenn sie schlachtreif sind, nicht mehr, wenn das Datum es verlangt.