«Wenn man hierherkommt, hat man noch immer dieses apokalyptische Bild vor Augen. Alles wirkt noch unwirklich», beschreibt der Gemeindepräsident Matthias Bellwald die Lage in Blatten VS der Nachrichtenagentur Keystone-SDA, während er am ersten Oktobertag über die Trümmer schreitet. Sein Blick fällt auf den See, der sich durch den Bergsturz gebildet hat. «Und doch spürt man einen wachsenden Optimismus, wenn man sieht, was bereits alles für den Wiederaufbau geleistet wurde», fährt der Gemeindepräsident fort.
Im Lötschental lässt sich das Ausmass der Katastrophe über mehrere Kilometer hinweg ablesen. Die Berghänge rund um Blatten erscheinen nun etwas niedriger. Schlamm, Geröll und Trümmer bedecken den Talboden in Braun- und Grautönen und begraben die Überreste menschlicher Bauwerke, einige davon mehrere Jahrhunderte alt.
Riesige Geröllhalde
Vom Dorf, das 1233 schriftlich erstmals unter dem Namen «uffen der Blattun» erwähnt wurde, sind nur noch wenige Häuser übrig. Die «Blattenstrasse», die einst zwischen ihnen verlief, endet abrupt. Sie stösst auf eine riesige Geröllhalde.
Weniger als ein Dutzend Dächer, teils intakt oder noch mit Solarpanels ausgestattet, spiegeln sich im türkisfarbenen Wasser. Der Pegelstand des neu entstandenen Sees hat sich inzwischen um drei bis fünf Meter abgesenkt. «Der Spielplatz ist noch in Ordnung», bemerkt der Gemeindepräsident mit einem zaghaften Lächeln. Tatsächlich: Die gelbe Rutschbahn und ihre Holzkonstruktion stehen noch und ragen aus dem Wasser heraus.
Liebe zu Bergen bleibt
Hat das Ereignis vom 28. Mai das Verhältnis zur Bergwelt verändert? «Nein», antwortet Matthias Bellwald ohne zu zögern. «Natürlich haben wir uns gefragt, warum sie unser Dorf zerstört hat, aber unsere Liebe zu den Bergen, zum Tal und zur Landschaft hat sich im Grunde nicht verändert.»
Die Bagger, die ober- und unterhalb der Lonza im Einsatz sind, durchbrechen die Stille dieses Ortes, der seiner rund 300 Einwohner beraubt wurde – sie wurden rechtzeitig evakuiert. Das einzige Todesopfer der Katastrophe bleibt in Erinnerung: Ein 64-jähriger Mann, der sich um seine Schafe kümmern wollte und tot im Gebiet Tennmatten gefunden wurde – etwas mehr als zwei Kilometer vom nun verschütteten Dorfzentrum entfernt.
Ein Gartenzwerg, der noch auf seinen zwei Beinen steht, eine Hängematte, die noch an einer wackeligen Terrasse befestigt ist, oder ein halb versunkenes Velo: Diese Spuren des früheren Lebens stehen im starken Kontrast zu den Trümmern, die von Kameras nicht allzu genau eingefangen werden können.
Gefahr nicht gebannt
Auch heute noch bleibt das betroffene Gebiet für die Öffentlichkeit gesperrt. Nur die dreizehn Bewohner der beiden Weiler Weissenried und Eisten durften Anfang Juni zurückkehren, um lebensnotwendige Dinge zu holen.
In regelmässigen Abständen besuchen Fachkräfte für Naturgefahren – darunter auch der Kantonsgeologe – das Gebiet. Die Gefahr besteht weiterhin. Die schon Jahre vor der Katastrophe vom Weltall aus sichtbaren Bewegungen des Kleinen Nesthorns, dessen Gipfel auf 3341 Metern über Meer liegt, werden weiterhin genau überwacht.
Am 28. Mai um exakt 15.24 Uhr löste sich der höchste Punkt des Gipfels. Und das Dorf Blatten verlor seinen eigenen. Die Pfarrkirche von 1985, obwohl aus Stahlbeton gebaut, ist verschwunden.
Der Weiler Weissenried blieb vom Bergsturz knapp verschont.
Christian Zufferey
«Wir möchten unseren Friedhof wiederfinden, der unter den Trümmern begraben liegt», sagt der Gemeindepräsident. «Es trifft uns tief, dass wir ihn noch nicht freilegen konnten – und dass die Kirche komplett zerstört ist.»
Blatten 2030
Der Wiederaufbau des zerstörten Dorfs hat bereits begonnen. Der symbolisch bedeutsame erste Spatenstich erfolgte am 19. September. Die absolute Priorität? «Der soziokulturelle Teil – das Gemeinschaftsleben, das in den Gemeinden weitergeht, in denen unsere Mitbürger aktuell leben», sagt Bellwald.
Anschliessend müsse ein schneller und effizienter Transportweg ins Dorf geschaffen werden, um Maschinen und Geräte dorthin bringen zu können. Derzeit führt nur ein provisorischer Erdweg als Notzufahrt ins Dorf – eine regelrechte «Nabelschnur», wie der Gemeindepräsident ihn nennt.
Ein weiteres Zeichen des Fortschritts: Die Wasser- und Stromversorgung sind bereits bereit für die Wiederinbetriebnahme. Eine Gefahrenkarte, die derzeit in Arbeit ist, bestimmt die nächsten Schritte des Wiederaufbaus. Laut den Plänen der Behörden soll dieser bis spätestens 2030 abgeschlossen sein.