Nach 15 Jahren im Berner Jura bin ich Anfang Mai mit meinem Partner und Hund auf einen kleinen Hof oberhalb von La Chaux-de-Fonds gezogen. Das neue Zuhause liegt zwar nur rund 15 Minuten vom alten Wohnort entfernt. Der Wechsel von einer 900 Einwohner zählenden Gemeinde in eine Stadt mit 37’000 Einwohnern ist aber grosser Sprung.
«Tornado-Valley»
Als ich in der Redaktion von unseren Umzugsplänen erzählt habe, hat sich mein Kollege Reto Blunier von der Online-Redaktion gerade an die Internetrecherche gemacht und rausgefunden, dass La Chaux-de-Fonds die Wiege für Tornados in der Schweiz ist. Am 12. Juni 1928 wütete hier ein Tornado, der vielen Tieren das Leben gekostet hat.
Die Bilder im lokalen Archiv zeigen die Verwüstung von damals. Abgedeckte Bauernhausdächer , verwüstete Wälder und aufgeblähte Pferde- und Rinderleiber . Seit der Recherche von meinem Kollegen kam dann oft der Spruch: «Na, kommt Du wieder aus Tornado-la-Chaux-de-Fonds?»
Vergangenen Montag war ich in Bern. Am Morgen um sieben Uhr war die Welt dort im Neuenburger Jura noch in Ordnung. Ich stand am Bahnhof, der angemeldete Regen war nicht gekommen. Wie schon so oft habe ich mich gefragt, warum für die ganze Schweiz Unwetterwarnung Stufe 1 gilt, wenn es am Morgen zweimal donnert. Das ist im Sommer doch eigentlich ganz normal. Nach der Redaktionssitzung klingelte dann das Telefon. Die Info: In La Chaux-de-Fonds hat es einen Tornado gegeben.
Sorge um die Guschti
Die Aufregung war gross. Reto Blunier habe ich die Nachricht natürlich als ersten zugeworfen. Dann hingen wir auch schon vor dem Computer und schauten uns die ersten Bilder aus La Chaux-de-Fonds an. Das war sehr emotional und irgendwie unwirklich. Mein erster Gedanke war, wie geht es den Guschti. Erst am Samstag haben wir drei knapp einjährige Tiere – Florina, Giorgia und Giannina – zur Obhut erhalten.
Auf der einzigen ebenen Fläche steht das Tränkefass. Die drei liegen dort in der Nacht gerne unter den grossen Ahornbäumen. Ein Baum hatte schon beim letzten Gewitter dicke Äste abgeworfen. Zum Glück war unsere Nachbarin telefonisch erreichbar. Die Guschti seien alle wohlauf, sagte sie aufgeregt. Obwohl sie unter den Bäumen gelegen hätten und vom ersten Baum die gesamte Krone ausgebrochen sei und nun auf dem Zaun liege.
Dégâts après la tornade de Chaux-de-Fonds 🙏🏼🇨🇭 pic.twitter.com/WLlUxMAmZf
— Maude Leschot (@MLeschot) July 24, 2023
⛈ Un violent orage a causé de gros dégâts à La Chaux-de-Fonds en Suisse, près de la frontière française. Il s'agirait de très puissantes rafales descendantes. Les images sont impressionnantes. (© Alain Cuenat) pic.twitter.com/zrLEFcxDfJ
— Météo Express (@MeteoExpress) July 24, 2023
Besondere Stimmung
Zwar war ich nach dem Telefonat etwas beruhigt, aber um 15 Uhr habe ich mich dann doch auf den Heimweg gemacht. Die Reise war lang. Der Bahnverkehr nach La Chaux-de-Fonds war natürlich unterbrochen. Bis St. Imier BE kam ich noch, danach ging es weiter mit dem Ersatzbus. Das klappte super, denn in der vergangenen Woche war ein grosses Anarchistentreffen in der Stadt mit über 5000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Während dieser Woche gab es bereits Schienenersatzverkehr.
Einmal hielt der Bus an, weil die Strasse durch die Feuerwehr gesperrt war. Ein Dach war vom Sturm abgedeckt. Nun drohte der Kamin einzustürzen. Der Blutdruck stieg bei mir wieder. Ich fragte mich, was mich wohl erwarten wird. So ging es wohl allen im Bus. Die Stimmung war sehr besonders. Alle waren sehr kommunikativ.
Zu Hause angekommen, war ich erleichtert. Klar, die Krone vom Baum war weg und die Telefonleitung abgerissen, aber sonst sah es gut aus. Sogar unsere 23 Reihen Kartoffeln hatten das Unwetter unbeschadet – dank neuem Hagelnetz – überstanden. Bei der Garage waren einige Ziegeln aufgestellt wie bei einer Domino-Ralley, aber keine davon kaputt. Das war schnell wieder geflickt.
Zerstörte Gebäude
Im Haus musste ich dann feststellen, dass kein Wasser aus dem Hahn kam. Die Leitung mit dem Stadtwasser war unterbrochen. Aber das ist bei uns kein Problem, denn es hat zwei volle Zisternen und Wasseranschlüsse im Stall und im Vorraum. Der Strom war nicht unterbrochen. Aber die Telefonleitung, die bei uns noch oberirdisch verläuft, wurde durch einen Astbruch abgerissen. Somit war auch das Internet flach und an Homeoffice nicht zu denken.
Hier hat es nur ein paar Ziegel aufgestellt.
Monika Gerlach
Erst am Mittwoch habe ich mich runter in die Stadt getraut und mich davon überzeugt, dass die Bilder aus dem Fernsehen und Internet auch wirklich stimmen. Die Bilder sprechen Bände. Fährt man in Richtung Le Locle, werden die Schäden immer eindrücklicher. Der Turm von der Kapelle des jüdischen Friedhofs Les Eplatures ist komplett weggerissen. Von der Kaffeerösterei La Semeuse kann man nur noch die Etagen sehen, die Wände sind weggeflogen.
1000 qm Holz am Boden
Von einer befreundeten Bäuerin aus Renan BE kam ein Anruf, dass es grosse Schäden in ihrem Wald gegeben habe – der Wald, in dem wir gemeinsam im Frühling unseren Motorsägenschein E29 absolviert haben. Während der Kurswoche haben wir gut 50 Kubikmeter Holz gefällt, nun liegen zirka 1000 Kubikmeter am Boden.
Ein besonderer Moment wenn man das sieht. Man wird sehr ehrfürchtig. Ich habe mir vorgestellt wie es ist, wenn ein Auto mit 217 km/h nahe an mir vorbei rast – mit dieser Geschwindigkeit zog der Sturm durch die Region.
So schnell wird das «normale» Leben von den Menschen in und um La Chaux-de-Fonds und Umgebung nicht weitergehen. An tausenden Häusern hat es Schäden gegeben, Stalldächer sind abgerissen, Unterstände zerstört, im Wald gibt es viel aufzuräumen.
Materielle Schäden sind die eine Sache, aber ein Mensch verlor sein Leben. Viele wurden verletzt. Man kann nur hoffen, dass sich alles wieder normalisiert und solche Unwetterereignisse nicht zur neuen Normalität werden. Ein Entkommen ist unmöglich – es gibt kein ruhiges Hinterland.
Hier muss jemand hoch hinauf um die Kirchturmspitze zu demontieren.
Monika Gerlach
Der schwere Sturm
Die Schäden an den Gebäuden durch den gewaltigen Sturm am Montag in La Chaux-de-Fonds belaufen sich gemäss einer ersten Schätzung auf 70 bis 90 Millionen Franken, schreibt die Nachrichtenagentur Keystone-SDA. 4000 bis 5000 der rund 7500 Gebäude in der Region wurden beschädigt. Und weit über 1000 Hektaren Wald wurden in Mitleidenschaft gezogen.
Alleine bei der Mobiliar Versicherung gingen 2300 Schadenmeldungen ein. Der Schadenaufwand betrage über 6,9 Millionen Franken, teilte die Mobiliar am Freitag mit. Besonders betroffen sei die Region La Chaux-de-Fonds gewesen; der dort zu erwartende Schadenaufwand werde derzeit ermittelt.
Der Sturm traf mit einer geschätzten Böe von 217 km/h gegen 11:30 Uhr auf die Uhrenmetropole. Laut Meteorologen dürfte es sich bei dem meteorologischen Ereignis am ehesten um eine schwere Gewitterfallböe gehandelt haben. Zunächst war auch von einem Tornado die Rede gewesen, schreibt der Nachrichtendienst weiter.
Beim Sturz eines Baukrans am Bahnhofplatz kam eine Person ums Leben, wie die Kantonspolizei Neuenburg mitteilte. Der Kran fiel auf ein Auto, das daraufhin Feuer fing. Rund 40 Menschen ohne lebensbedrohliche Verletzungen wurden in Neuenburger Spitäler eingeliefert.
Unversehrt blieben alle Tiere im Muzoo Park. Es seien keine Verletzungen oder Ausfälle zu beklagen, erklärte Zoo-Direktor Xavier Huther. Alle Einrichtungen – Zoo, Museum, Vivarium – bleiben jedoch bis auf Weiteres geschlossen.
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