Toni und Marlene Sidler wanderten 1992 nach Frankreich aus. Damals ahnten sie nicht, dass sie einen europäischen Milchstreik mitorganisieren und den französischen Agrarminister am Küchentisch haben würden. Mit Bildergalerie.
Vor 20 Jahren zogen Toni und Marlene Sidler aus Eich LU aus, um ihr Glück in Frankreich zu suchen. In Chapelle D’Andaine im Departement Orne in der südlichen Normandie bewirtschaften sie seither einen Milchwirtschaftsbetrieb mit 135 ha Nutzfläche, einem Milchkontingent von 700’000 kg, rund 80 Holsteinkühen und gleich viel Jungvieh. Auf 50 ha werden Raps und Weizen angebaut, die abgeliefert werden. Der Rest der Fläche dient dem Futterbau. Der Verkauf von Erstmelkkühen ist ein wichtiger Betriebszweig. Die durchschnittliche Milchleistung beträgt fast 12’000 kg Milch pro Kuh und Laktation.
Fütterungsautonomie
Gemäss diesen Kennzahlen müsste Toni Sidler ein richtiger «Vollgasbauer» sein. «Nein, ich bin kein Vollgasbauer», wehrt Sidler ab. Sein Motto laute viel mehr «Nourire les vaches et le sol», übersetzt heisst das «Die Kühe und den Boden ernähren». Jeden Morgen, wenn er aufstehe, sei es sein Ziel, seine 80 Kühe und 3,5 Tonnen Regenwürmer pro ha zu füttern.
Denn er strebe eine nachhaltige Landwirtschaft an, die ihren Namen verdiene: «Wir haben knapp 12’000 Stalldurchschnitt und kaufen pro Kuh pro Tag einzig 1,5 kg Rapschrot zu. Der Rest ist vom Betrieb.» Durch eine intelligente Fruchtfolge und viel Leguminosen sei es möglich, eine fast autonome Fütterung umzusetzen. So wird Soja als Eiweissfutter durch eine Silage-Mischung von Wicken, Eiweisserbsen und etwas Futtergetreide ersetzt. «Trotz hohen Leistungen sind wir nicht weit vom Biostandard weg», fügt er an und spricht von «Fütterungsautonomie». Die grossen Agrokonzerne hätten die Bauern zunehmend im Klammergriff: «Sie verkaufen das Futtermittel und kaufen die Milch.» Und diese Konzerne hätten kein Interesse daran, wenn die Bauern ihr Kraftfutter selber produzieren würden.
Damit bringt Sidler das Gespräch auf sein agrarpolitisches Engagement. Seit der europäische Milchmarkt immer liberaler wurde und die Milchpreise immer tiefer sanken, sei er regelmässig auf die Strasse gegangen, wenn der Milchpreis wieder einmal runterging.
Im Mai 2009 lag dann der Milchpreis bei noch 21 Cent. Da die Molkereien in ganz Europa nicht bereit waren, die desolaten Milchpreise zu erhöhen, wurde die Forderung nach einem erneuten Milchstreik laut. Bereits 2008 hatten Milchbauern vor allem in Deutschland und der Schweiz ihre Milch nicht mehr abgeliefert, doch Frankreich stand damals abseits. Dies auch, weil es noch keine schlagkräftige Milchstreiker-Organisation gab.
Mehrsprachigkeit
Als sich 2009 die Milchkrise zuspitzte, wurde die unabhängige «Association nationale des Producteurs de Lait indépendants» (APLI) gegründet. Apli begann, sich flächendeckend in jedem Departement zu organisieren. «Da ich zum einen sowohl deutsch und französich spreche und zum anderen zwei, drei führende Leute der Apli schon kannte, bin ich oft mit Apli-Gründer Pascal Massolan an die Verhandlungen mit EU-Behörden nach Brüssel gefahren und wurde Delegierter im European Milk Board (EMB)», erinnert sich Sidler Und der Schweizer war auf einmal mitten drin in diesem grossen Europäischen Milchpoker.
Doch nicht nur Toni, sondern auch seine Frau wie auch ihre Kinder wurden mehr und mehr Teil einer europäischen Bewegung. Als am 10.September 2009 der Milchstreik ausgerufen werden sollte, war Marlene Sidler auserkoren, das «Lauffeuer» zu verbreiten: «Marlene, unser Sohn Pirmin sowie der Vizepräsident des regional Verbandes fuhren zuerst nach Paris, dann nach Luxemburg und schliesslich in den Schwarzwald.» Dann war es Toni, der ins Ausland musste: «Von den 13 Tagen, die der Milchstreik dauerte, war ich 11 Tage im Ausland.» In dieser Zeit sei er durch Deutschland gereist, um Referate zu halten.
4 kg abgenommen
Irgendwann habe ihn seine Frau angerufen und gesagt: «Es wäre Zeit, nach Hause zu kommen. Wir haben selber auch noch Kühe.» Als er zu Hause gewesen sei, habe sie sofort gesehen, dass die anstrengende Zeit nicht spurlos an ihrem Mann vorbei gegangen sei. «Er hat 4 kg abgenommen in dieser Zeit», sagt Marlene.
Er wäre auch von selber nach Hause gekommen, betont Toni: «Ich mochte nicht mehr.» Die Frage, wann aufzuhören sei mit einem Streik, sei schwierig zu beantworten. Für diejenigen, welche von Anfang an gestreikt hätten, sei es nach einer Woche extrem hart geworden. Gemäss Angaben des offiziellen Milchverbands haben nur 5% der Milchbauern gestreikt. «In unserer Gemeinde haben von11 Bauern 9 beim Streik mitgemacht», hält Sidler dagegen. Auswertungen von Apli hätten ergeben, dass rund 30% der Milchbauern in Frankreich gestreikt hatten.
Im Anschluss an den Streik schuf Apli Strukturen auf nationaler Ebene. Doch bis ein Sekretär angestellt war, lag ein Grossteil der Organisation bei Sidlers. «Wenn wir nicht die Kinder gehabt hätten, wäre es nicht gegangen», erzählt Marlene. So habe Sohn Pirmin die Apli-Organisation am PC regelrecht gemanagt. Toni nahm auch im EMB-Vorstand Einsitz – für den Schweizer Martin Haab übrigens.
Apli hat Weg verlassen
Doch seit kurzem tritt er kürzer. Es gebe dafür mehrere Gründe: «Zum einen muss der Betrieb wieder richtig laufen. Dann muss jeder ersetzbar sein.» Schliesslich gebe es eine Richtungsänderung in der Politik von Apli, die ihm nicht gefalle. Apli habe immer mehr mit den Kleinbauernorganisationen zusammengearbeitet. «Doch wir hatten eigentlich das Ziel, alle Milchbauern einzubinden», betont Sidler. Zudem sei Apli zunehmend ein neuer Bauernverband geworden. Denn heute fehle das richtige Ziel: «Früher wollten wir zum einen den Milchpreis verbessern. Dann wollten wir den Bauern aber auch betriebswirtschaftlich weiterhelfen.» Die neue Apli-Führung habe aber auch das nicht mehr gewollt.
Doch Sidler gibt nicht auf. In Beratungsringen, welche er zusammen mit einem Agroingenieur aufzieht, will er die Bauern zu mehr Selbstständigkeit ermuntern: «Uns wird von allen Seiten diktiert, wie wir bauern sollten, damit die anderen immer mehr profitieren.» Das wolle er nun ändern. Das Ziel sei, eine unabhängige Fütterung auf hohem Niveau zu propagieren.
Denn die Bauern selber müssten sich an der Nase nehmen: «Man kann nicht nur nach einem höheren Milchpreis brüllen, sondern wir müssen an der ganzen Wertschöpfungskette etwas ändern.» So könnten beispielsweise kleine, unabhängige Molkereien in Bauernhand bessere Milchpreise ausbezahlen. Dies aber auch nur, wenn die Milch gebündelt und unter der gleichen Marke angeboten werde. Dann müsse auch ein Mehrwert für Konsumenten vorliegen: «Es darf nur möglichst naturbelassene, nicht manipulierte Milch sein. Die Kühe werden nicht mehr nur mit Mais und Soja aus Brasilien gefüttert. Und die Grundprodukte werden regional hergestellt und vermarktet.» Wichtig sei auch, dass die CO2-Bilanz ausgewiesen werde.
Politik brauchts auch
Eine gewisse Hoffnung setzt Sidler in den neuen französischen Agrarminister Stephan Le Foll, der mit dem Machtwechsel von Nicolas Sarkozy zu François Hollande ins Amt gekommen ist. Le Foll war Europadelegierter der Sozialisten in Brüssel für Landwirtschaft und Budget gewesen. Dort hat ihn Sidler kennengelernt. «Wir sind übrigens per du», fügt er an. Und Le Foll sei auch schon zusammen mit dem damaligen Apli-Vorstand bei ihm am Küchentisch gesessen. Denn ganz ohne die Politik werde es auch nach dem Ausstieg aus der Milchkontingentierung nicht möglich sein, den Milchmarkt nachhaltig zu stabilisieren.