Die Schweiz hat einer Studie zufolge die fortschrittskritischste Bevölkerung einer Reihe von Ländern. Besonders in der Politik wollen Schweizerinnen und Schweizer den Fortschritt bremsen. In den Schwellenländern hingegen wollen die Leute Fortschritt.
Ein Vergleich zwischen verschiedenen Ländern im aktuellen
Credit Suisse-Fortschrittsbarometer zeigt, dass sich Schweizer einen Rückgang
oder zumindest eine Verlangsamung des Fortschritts wünschen. In der am Dienstag
veröffentlichten Studie, die zusammen mit dem Forschungsinstitut GFS Bern
herausgegeben wurde, werden 16 Länder aus allen Kontinenten in verschiedenen
Kategorien in Bezug auf ihre Fortschrittlichkeit verglichen.
Pro Land gaben je 1000 Befragte unter anderem Auskunft
darüber, ob sie sich für ihr Land weiteren Fortschritt wünschen. Auf einer
Skala von -100 (Fortschritt sollte gebremst werden) bis +100 (Fortschritt
sollte beschleunigt werden) erreicht die Schweiz einen Wert von -4. Damit sind
die Schweizer insgesamt hinter den US-Amerikanern (+1) und den Australiern (+2)
am wenigsten fortschrittlich eingestellt.
Hoher Lebensstandard schmälert Fortschrittswunsch
Dass die Schweizer sich einen Rückgang des Fortschritts
wünschen, kann laut Studienleiterin Cloé Jans auf den hohen Lebensstandard
hierzulande zurückgeführt werden. Denn je höher der Wohlstand gemessen am BIP
pro Person in einem Land sei, desto weniger fortschrittsbereit seien in der
Tendenz dessen Bürger.
Am meisten Fortschritt wünschen sich hingegen die Befragten
aus aufstrebenden Ländern wie Brasilien (+33), China (+31), Indien und
Südafrika (beide +19). Tendenziell aufgeschlossen gegenüber dem Fortschritt
sind auch alle weiteren asiatischen Länder.
Nachhaltigkeit...
Während die Schweizerinnen und Schweizer das wirtschaftliche
Wachstum bremsen möchten, sprechen sie sich dafür klar für mehr Nachhaltigkeit
in der Wirtschaft aus (91 Prozent). Das Bedürfnis nach Nachhaltigkeit hat auch
global gesehen Priorität: In mehr als drei Viertel der untersuchten Länder und
über alle Kulturkreise und Kontinente hinweg wünschen sich die Bürger mehr
Nachhaltigkeit.
Gleichzeitig beurteilen 84 Prozent der in der Schweiz
Befragten den Status Quo der Wirtschaft hierzulande als sehr fortschrittlich.
In den Bereichen Politik und Gesellschaft empfinden etwas mehr als die Hälfte
aller Befragten die Schweiz als fortschrittlich.
...und Zukunftsangst
Die in westlichen Ländern dominierende Idee der
Nachkriegsjahre, dass es der nächsten Generation einst besser gehen wird als
der vorangehenden, gilt laut der Studie heute nicht mehr. Besonders verbreitet
ist die Zukunftsangst auch in der Schweiz, wo 77 Prozent der Befragten diese
Angst teilen. Damit haben nur die Menschen in Südafrika häufiger Angst vor der
Zukunft (80 Prozent). Nur in vier untersuchten Ländern waren mehr als die
Hälfte der Befragten der Überzeugung, die Zukunft werde für ihre Kinder besser.
Während die Schweizerinnen und Schweizer, die für den
Fortschritts-Barometer befragt wurden, grösstenteils mit ihrem Leben zufrieden
sind (64 Prozent), blickt der grösste Teil ängstlich in die Zukunft (56
Prozent). Weitere 37 Prozent haben gemischte Gefühle, was ihre eigene Zukunft
anbetrifft. Auch bei der Zukunft der Gesellschaft verzeichnet die
Schweiz das negativste Bild aller untersuchten Länder. 38 Prozent der Befragten
sehen die Zukunft der Schweizer Gesellschaft düster. Eindeutig zuversichtlich
sind die Befragten jedoch auch sonst in keinem untersuchten Land.
E-Mobilität als weltweites Topthema
Bei der Studie wurde auch gewichtet, bei welchen Themen der
Wunsch nach Fortschritt am grössten ist. Die Top-Themen in der Schweiz sind der
Ausbau des Untergrundtransports und damit verbunden auch der Schutz der
bestehenden Landschaft. Zudem wünschen sich die Befragten mehr
Gleichberechtigung der Geschlechter und möchten die Innovation und Forschung
mit zusätzlichen Steuergeldern fördern.
Auch die Weiterentwicklung der Elektromobilität wird in der
Schweiz als wichtige Aufgabe wahrgenommen und ist global gesehen über alle
Länder hinweg sogar das wichtigste Fortschrittsthema. Besonders im asiatischen
Raum geht laut dem Barometer eine Mehrheit der Befragten davon aus, dass im
technologischen Fortschritt der Schlüssel für die Lösung der Probleme unserer
Zeit liegt.
Besonders kritisch betrachten die Schweizerinnen und
Schweizer das Wegsterben unabhängiger Medien. Aber auch die fortschreitende
Verbauung der Landschaft, die zunehmende politische Polarisierung und die
Auslagerung von Geschäftsbereichen ins Ausland möchten die Befragten bremsen.
Auch im weltweiten Vergleich ist die politische
Polarisierung das Thema Nummer eins, bei dem man sich Rückgang wünscht, gefolgt
von Fehlinformationen (Fake News) und der Auslagerung.

