Im Südsudan droht 100'000 Menschen unmittelbar der Hungertod. Bürgerkrieg, Hungersnot und eine Cholera-Epidemie kennen keine Gnade. In ihrer Verzweiflung essen die Menschen auch Seerosen und Blätter. Eine Luftbrücke verhindert in vielen Gebieten noch ein Massensterben.
Der Hunger treibt Maria Nyamuoka Tag für Tag in die Sümpfe des Weissen Nils. Dort watet sie hüfttief im schlammigen Wasser und sucht nach Seerosen, um ihre Familie am Leben zu halten.
«Die Kinder jammern immer, dass sie Hunger haben», sagt die 28-jährige Mutter von drei Kindern im Bundesstaat Unity, dem am schlimmsten betroffenen Hungergebiet im Südsudan. Nyamuoka gestikuliert verzweifelt: «Aber ich habe nichts, was ich ihnen geben kann.»
50 Seerosen für eine Mahlzeit
Spätestens seit den Gemälden von Claude Monet sind Seerosen in der westlichen Welt ein Symbol der Idylle. In Teilen des Bürgerkriegslandes Südsudan sind sie jedoch oft das Einzige, was zwischen Hungertod und Überleben steht. Die Samen in den Knospen und die Wurzeln der Seerosen sind nicht sehr nahrhaft, aber essbar und ganzjährig zu finden. «Man braucht ungefähr 50 Seerosen für eine Mahlzeit für die Familie», erklärt Magai Mayak Gatbuok. «Es dauert einen ganzen Tag, so viele zu sammeln», sagt die achtfache Mutter.
Die Seerosen, «Yiel» in der örtlichen Sprache Nuer, werden normalerweise getrocknet und gekocht, aber manchmal lässt Gatbuok die Kinder die Knospen auch roh essen, damit sie sich bis zur nächsten Mahlzeit gedulden können. «Sie essen nur, damit sie das Warten aushalten.»
Opfer meist Kinder unter fünf Jahren
Die Familie kann inzwischen nur noch ein Mal pro Tag essen, für mehr reicht es nicht. Die meisten Familien essen abends, denn wenn Kinder hungrig ins Bett müssen, können sie nicht schlafen. Die UNO hat für Teile des Bundesstaats Unity Ende Februar eine Hungersnot erklärt - die erste weltweit seit 2011. Es ist ein Hilfeschrei.
Nach UNO-Angaben sind in den Gebieten rund 100'000 Menschen unmittelbar vom Hungertod bedroht, eine Million weitere stehen kurz davor. Die ersten Opfer sind meist Kinder unter fünf Jahren. Ihr Immunsystem ist am schwächsten. Landesweit sind 5,5 Millionen Menschen auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen.
Was genau ist eine Hungersnot?
Eine Hungersnot ist die schlimmste Form einer Hungerkrise. Wenn die Vereinten Nationen eine Hungersnot erklären, dann sterben bereits viele Menschen an den Folgen der Unterernährung. Für die Ausrufung einer Hungersnot gelten vorab bestimmte Kriterien.
Demnach müssen unter anderem 30 Prozent der Bevölkerung akut unterernährt sein. Zudem sterben dann täglich mindestens zwei von 10'000 Menschen an Nahrungsmittelmangel. Auch muss ein Grossteil der Bevölkerung die Lebensgrundlage verloren haben - das ist im Südsudan zum Beispiel wegen der vielen Binnenflüchtlinge der Fall.
Eine Hungersnot ist in jüngerer Vergangenheit ein selteneres Ereignis geworden, weil Regierungen und Hilfsorganisationen in der Regel früh genug helfend eingreifen. Das ist jedoch nur schwer möglich, wenn ein bewaffneter Konflikt in dem Land herrscht wie im Südsudan. Die letzten Hungersnöte fanden im heutigen Südsudan (2008) und in Somalia (2011) statt.
Helfer verhindern Massensterben
Der Ort Ganyliel - ausgesprochen wie «Ganjiel» - ist eine Sammlung von mit Schilfgras bedeckten, runden Lehmhütten. Es gibt hier keinen Strom, kein Mobilfunknetzwerk, keine geteerten Strassen. Für die rund 50'000 Einwohner von Ganyliel und Umland gibt es nur einen Arzt. Trotz allem haben die Menschen in Ganyliel - gemessen an der schrecklichen Hungerkrise - noch Glück: Helfer verhindern hier ein Massensterben.
«Die Kinder haben nie genug zu essen, aber ohne die Hilfe hätten wir zuhause gar nichts zu essen», sagt Mary Nyak Badoy. Sie ist frühmorgens mit ihrem Sohn aufgebrochen und drei Stunden nach Ganyliel marschiert, wo die Welthungerhilfe Nahrungsmittel verteilt. Die zehnfache Mutter reiht sich in die Schlange der Wartenden ein. Geduldig steht und sitzt sie viele Stunden bei über 40 Grad Celsius in der Sonne und wartet, bis sie ihre Monatsration bekommt. Pro Familienmitglied sind das 900 Milliliter mit Vitaminen gestärktes Speiseöl, 15 Kilogramm Hirse und 1,5 Kilogramm Bohnen oder Linsen.
Verlorene Generation droht
In der Region sind tausende Kinder mangelernährt. Immer wieder sieht man herausstehende Rippen, vereinzelt auch Hungerbäuche - ein Zeichen schwerer Mangelernährung. Wenn kleine Kinder über längere Zeit mangelernährt sind, werden sie sich nie voll entwickeln können. Es droht eine verlorene Generation.
Noch schlimmer ist es in den nördlich angrenzenden Gebieten von Mayendit und Leer, für die eine Hungersnot ausgerufen wurde. Dort bekämpfen sich Regierung und Rebellen, Helfer haben kaum Zugang zu den Notleidenden. Dort sterben ohne Zeugen Tausende in Folge des Hungers. Selbst stabile Gebiete wie Ganyliel können wegen Kämpfen nicht mehr über Land erreicht werden, der Ort wird mit einer Luftbrücke am Leben gehalten. Kleinere Lieferungen bringt das Welternährungsprogramm (WFP) mit Helikoptern, die Grösseren kommen mit Transportflugzeugen.
«Das Problem ist nicht nur der Hunger», sagt die kenianische IRC-Ärztin Jeldah Mokeira. «Durch den Hunger sind die Immunsysteme geschwächt und es kommt zu vielen anderen Infektionen», erklärt sie. Durchfall, Husten oder Malaria könnten vor allem für geschwächte Kinder schnell tödlich verlaufen.
Krise ist menschengemacht
In Teilen Ostafrikas, etwa in Äthiopien oder in Somalia, herrscht derzeit eine Hungerkrise, die von einer Dürre ausgelöst wurde. Die Krise im Südsudan ist jedoch vom Menschen verursacht: schuld ist der Bürgerkrieg. Mit internationaler Unterstützung erlangte der ölreiche Südsudan 2011 die Unabhängigkeit vom Sudan. Doch Ende 2013 brach ein Machtkampf aus zwischen Präsident Salva Kiir vom Volk der Dinka und seinem damaligen Stellvertreter Riek Machar, vom Stamm der Nuer.
Zehntausende sind der zunehmend auch ethnisch motivierten Gewalt der beiden Lager zum Opfer gefallen. Der Südsudan hat sich seither zur grössten Flüchtlingskrise in Afrika entwickelt. Rund 1,6 Millionen Menschen sind ins Ausland geflohen. Weitere 1,9 Millionen Menschen sind aus ihren Dörfern geflohen und haben anderswo im Land Schutz gesucht.
Konnten Tiere nicht mitnehmen
Das Ausmass der Vertreibung ist eine der Hauptursachen der Hungerkrise, denn die meisten Familien haben traditionell von ihrem Land und ihren Kühen oder Ziegen gelebt. «Bei der Flucht konnten wir nichts mitnehmen», erzählt Thomas Pay Geng, der wegen Kämpfen mit seiner Familie aus Mayendit geflohen ist. «Zuhause haben wir Äcker bestellt. Jetzt sind wir nur um unser Leben gelaufen.»
In Nyal schläft seine Familie nun mit dutzenden anderen Flüchtlingen im Freien. Die Kinder tragen teils zerfetzte Kleidung, teils nur ein T-Shirt. «Jetzt haben sie sofort Angst, selbst wenn sie nur eine Trommel hören. Sie fürchten, dass wieder geschossen wird.» Geng glaubt nicht, dass er je zurück kann. Die Heimat würde jetzt von den Dinka kontrolliert. In Nyal fühle er sich inmitten der Nuer sicher. «Wir können nicht mit denen leben, die unsere Brüder getötet haben.»
Gewalt schürt immer neue Gewalt. Selbst in den Hungergebieten ist der stolze Schatz fast jedes Familienvaters eine Kalaschnikow. Alle Bemühungen um eine friedliche Lösung liegen derzeit auf Eis.
Zügellose Inflation
Der Ort Ganyliel wird von der Opposition kontrolliert. Doch der einst lebendige Markt des Ortes ist heute fast leergefegt. Rebellenführer Machar wirft der Regierung vor, Lieferungen zu blockieren, um den «Hunger als Waffe» einzusetzen. Die Regierung weist das zurück. Aber die Märkte sind auch leer, weil die Inflationsrate rund 500 Prozent erreicht hat. Lebensmittelpreise haben sich vervielfacht. Das Grundnahrungsmittel Hirse gibt es nicht mehr zu kaufen, Zucker und Salz werden noch als Delikatesse in 50-Gramm-Säckchen verkauft.
Neben der Hunger-Nothilfe bemühen sich Helfer auch, den Menschen Mittel zu geben, sich schon bald wieder selbst ernähren zu können. Die Welthungerhilfe etwa hilft mit dem Aufbau von Gemüsegärten und der Verteilung von Saatgut. Doch für langfristige Hilfsprojekte gibt es bislang zu wenig finanzielle Hilfen. Für den Kampf gegen die Hungerkrise werden nach UNO-Angaben in diesem Jahr rund 1,5 Milliarden Euro gebraucht, doch bislang ist erst ein Viertel zugesagt. Die Hilfe für die Hungernden kann das eigentliche Problem - den Bürgerkrieg - nicht lösen.