Das Unrecht an Opfern fürsorgerischer Massnahmen bis in die 1980er-Jahre soll gesetzlich anerkannt werden. Der Nationalrat hiess am Mittwoch deutlich ein Gesetz gut, das die Menschen rehabilitiert, die in der Schweiz ohne Gerichtsurteil weggesperrt worden waren.
Vom Gesetz erfasst werden Personen, die bis 1981 von Verwaltungsbehörden in psychiatrische Anstalten und Strafanstalten eingewiesen wurden - wegen «Arbeitsscheu», «lasterhaften Lebenswandels» oder «Liederlichkeit». Den Betroffenen war der Zugang zu einer gerichtlichen Überprüfung in vielen Fällen verwehrt.
Nur SVP dagegen
Das Gesetz soll das Unrecht anerkennen, das administrativen Versorgten widerfahren ist. Diese Anerkennung in einem Gesetz solle die Betroffenen Gerechtigkeit erfahren lassen und Klarheit für die Öffentlichkeit schaffen, sagte Andrea Caroni (FDP/AR) namens der vorberatenden Rechtskommission.
Das damalige Verhalten der Behörden verletze aus heutiger Sicht das Gerechtigkeitsempfinden und elementare Grundrechte. Sprecher aller Fraktionen sagten, die Anerkennung des Unrechts sei wichtig. Angeregt worden war das Gesetz durch einen Vorstoss der Linken.
In der Abstimmung befürwortete der Nationalrat das Gesetz mit 142 zu 45 Stimmen bei 4 Enthaltungen. Nein stimmte die Mehrheit der SVP-Fraktion, allerdings ohne ihre Argumente gegen die Rehabilitierung darzulegen.
Aufarbeitung und Akteneinsicht
Nebst der Anerkennung des Unrechts verlangt das Gesetz eine Kommission, welche das düstere Kapitel der administrativen Versorgungen aufarbeiten soll. In diesem Gremium sollen Expertinnen und Experten verschiedener Wissenschaftsdisziplinen Einsitz nehmen. Die Betroffenen - oder deren Angehörige - sollen zudem Zugang zu ihren Akten erhalten, und zwar kostenlos und ohne bürokratische Hürden. Die Behörden sollen diese Unterlagen aufbewahren.
Am meisten zu reden gab allerdings, was im Gesetz nicht enthalten ist: eine finanzielle Wiedergutmachung. Es sei nicht am Bund, dafür aufzukommen, da das Unrecht auf kantonaler und kommunaler Ebene begangen worden sei, sagte Caroni im Namen der Kommission.
Es werde in Kantonen und Gemeinden geholfen, sagte FDP-Fraktionschefin Gabi Huber (UR). Für die CVP ist eine allfällige Entschädigung Sache des Bundesrates. Beat Flach (GLP/AG) sieht neben Gemeinden und Kantonen auch jene in der Pflicht, die von der Arbeitsleistung von administrativ Versorgten und Verdingkindern profitierten.
Entschädigung für Bundesrat nicht ausgeschlossen
Auf eine Entschädigung pocht die Linke. Es handle sich erst um den ersten Tag in der Bewältigung des Unrechts, sagte Daniel Vischer (Grüne/ZH). Susanne Leutenegger Oberholzer (SP/BL) gab zu bedenken, dass viele Menschen grosse materielle Schäden erlitten hätten. Sie hätten keine Berufslehre absolvieren können, dadurch tiefe Löhne verdient und verfügten nun nur über eine schlechte Altersvorsorge.
Das Fehlen einer Entschädigungsregelung sei «kein absolutes Nein für alle Zukunft», sagte Justizministerin Simonetta Sommaruga. Die Frage solle später geklärt werden, im Lichte der Aufarbeitungen im Inland aber auch im Ausland. «Wir sollten uns die Option offen halten.»
Runder Tisch
In seiner Stellungnahme zum Gesetzesentwurf hatte der Bundesrat auf die Arbeiten des Runden Tisches für Verdingkinder und andere Opfer fürsorgerischer Massnahmen verwiesen. Dieses Gremium mit Betroffenen, Behörden, Wissenschaft und anderen hatte im Oktober beschlossen, einen Härtefall- oder Solidaritätsfonds zu prüfen.
Angesichts des hohen Alters vieler Betroffener wird bis im Frühling auch eine Soforthilfe aufgebaut - eine Massnahme, die keinen langwierigen Gesetzesprozess bedingt.
Volksinitiative geplant
Über die Entschädigungsfrage könnte auch das Volk entscheiden. Die Guido Fluri Stiftung prüft eine Volksinitiative, wie sie am Mittwoch mitteilte. Angesichts des Leids und Unrechts, das den Betroffenen widerfahren sei, brauche es eine grosszügige finanzielle Wiedergutmachung, schreibt die Stiftung. Viele Opfer lebten wegen des physischen und psychischen Missbrauchs in finanziell schwierigen Verhältnissen.
Die Guido Fluri Stiftung wartet nun die Ergebnisse des Runden Tisches ab, die im Frühjahr präsentiert werden. Sollte die Politik keine schnelle und unkomplizierte Lösung finden, werde sie eine Initiative lancieren, schreibt die Stiftung. Der Text sei bereits in Vorbereitung.