Jährlich werden 1800 Wildtiere in die Wildstation Landshut eingeliefert. Damit die Auswilderung erfolgreich verlaufen kann, dürfen die Patienten von den Fachärztinnen und Pflegern nicht verhätschelt werden.
Er war der erste Patient an diesem Morgen, der bei Ulrike Cyrus-Eulenberger auf dem Operationstisch lag. «Zuerst haben wir gedacht, er habe nur den Flügel gebrochen.» Doch beim Abtasten spürte die Tierärztin einen Knoten.
Nach dem Röntgen in einer ortsansässigen Tierarztpraxis zeigte sich, bei der Wölbung handelt es sich um ein Luftgewehrgeschoss: der Raubvogel wurde angeschossen. Ob es sich um einen dummen Lausbubenstreich handelt oder der Abschuss bewusst erfolgte, spielt für Ulrike Cyrus keine Rolle: «Ich werde bei der Polizei Anzeige gegen Unbekannt erstatten.» Für die Tierärztin ist eine solche Tat unverständlich. «Turmfalken richten keine Schäden an, im Gegenteil, sie sind erstklassige Mäusejäger.»
Viele Tierarten
Jährlich werden ungefähr 1800 Wildtiere, mehr als 100 verschiedene Tierarten, in der Wildstation Landshut im bernischen Utzenstorf abgegeben. «Für jedes Tier erstellen wir eine Kartei», so die Tierärztin. Landshut ist die grösste Wildstation in der Schweiz, die alle Arten von Wildtieren aufnehmen kann.
Steinadler, Biber, Hermeline, Mäusebussarde, Fledermäuse, Eichhörnchen. Oft werden die Tiere von Privatpersonen gebracht. Ulrike Cyrus betont an dieser Stelle: «Bei Unfällen mit Wildtieren oder beispielsweise beim Fund eines Fuchses oder Marders muss jedoch der zuständige Wildhüter kontaktiert werden. Dieser klärt dann die weitere Vorgehensweise ab.»
Vollständige Rehabilitation als Ziel
Jetzt im Frühling, beginnt die Saison der Jungtiere: Bereits wurde ein junger Feldhase eingeliefert. Feldhasen, die alleine auf der Wiese liegen würden, seien äusserst selten wirklich verwaist, betont Ulrike Cyrus, Fachärztin für Zoo-, Gehege- und Wildtiere und fügt hinzu, dass der junge Findling bereits wieder ausgewildert wurde.
Und das ist auch das Ziel – die vollständige Rehabilitation und die anschliessende Auswilderung der Tiere. Will heissen: Die Tiere müssen in der Lage sein, ihr Futter selbst zu finden. Erst danach werden sie an ihrem Fundort wieder freigelassen. Einige Tiere sind nur ein bis zwei Tage in der Station, andere wiederum müssen länger bleiben. Aus diesem Grund befinden sich auf dem 16'000 Quadratmeter grossen Areal der Wildstation auch drei grosse Flugvolieren für Greifvögel. Zudem hat es auch einen speziellen Fledermausraum mit Flugtunnel.
Eine Stiftung
Die Wildstation Landshut ist eine Stiftung. Sie arbeitet eng mit Wildhütern, Wildtierfachleuten und Naturschutzinstitutionen zusammen. Viele Patienten werden von den kantonalen Wildhütern eingeliefert, ein Grossteil auch von Privatpersonen. Die Stiftung ist keine Einrichtung des Bundes oder Kantons; sie finanziert sich über Spendengelder. Das Team der Wildstation Landshut besteht aus 7 Angestellten. Der Stiftungsrat sowie der Geschäftsführer sind ehrenamtlich tätig. Das Team der Wildstation Landshut in Utzenstorf ist täglich während den Öffnungszeiten erreichbar unter der Nummer 032 665 38 93. jgr
Schwerer Entscheid
Trotz aller Liebe zu den Tieren stellt die Tierärztin klar: «Unser Team besteht nicht aus durchgeknallten Tierschützern, und wir sind auch kein Streichelzoo.» Die Distanz gegenüber den Tieren sei enorm wichtig. Aus diesem Grund würden die Wildtiere nicht verhätschelt und unter Wahrung professioneller Distanz grossgezogen. Abstand braucht Ulrike Cyrus auch beim Abschätzen, ob ein Tier von seinem Leiden erlöst werden muss. Denn rund die Hälfte der eingelieferten Tiere haben keine Überlebenschancen, sie müssen einschläfert werden. «Ich helfe jedem Tier. Manchen, indem ich sie einschläfere.»
Lebende Eiterkugel
Den Grossteil der Patienten machen die Igel aus, rund 800 jährlich. Viele sind stark von Parasiten befallen, wurden von einem Auto angefahren oder sind von einem Fadenmäher verstümmelt worden. Ein tragischer Fall ist Ulrike Cyrus besonders in Erinnerung geblieben. «Ein Igel hat sich in einem Draht von einem Sektkorken verfangen.» Der Draht sei schon ins Fleisch eingewachsen gewesen, der Igel sei eine lebende Eiterkugel gewesen.
Die strengste Zeit in der Wildstation beginnt im Mai und dauert bis im Juli; bis zu 300 Findlinge werden monatlich eingeliefert. Es ist die Zeit der Brutvögel, Rehe und Feldhasen. Eine Herausforderung auch für die Bauern: «Viele laufen selbst die Wiese vor dem Mähen ab. Andere wiederum arbeiten mit Jägern zusammen, die im Vorfeld das Land absuchen.»
Viele Jagdvereine würden mittlerweile auch mit einer Drohne, die mit einer Wärmebildkamera ausgerüstet sei, das Terrain abfliegen, weiss Ulrike Cyrus, die selbst Jägerin ist. Zudem unterrichtet sie Studenten an der Uni und ETH Zürich, macht Führungen durch die Wildstation und beantwortet Frage der Bevölkerung zum Fund hilfsbedürftiger Tiere und zum Umgang mit einheimischen Wildtieren. «Die Aufklärung zum Natur- und Umweltschutz ist ein ganz wichtiger Teil unserer Arbeit», betont Ulrike Cyrus.
Die Angebote
Die Stiftung Wildstation Landshut in Utzenstorf bietet verschiedene Dienstleistungen an, die in direktem Zusammenhang mit ihrem umweltpädagogischen Auftrag stehen und die Arbeit der Wildstation präsentieren. Beispielsweise können die Besucher bei einer einstündigen Führung durch den Naturlehrpfad und die Krankenstation einen Blick hinter die Kulissen. Ein weiteres Angebot sind Kindergeburtstage. Bei Spiel und Spass erfahren das Geburtstagskind und seine Gäste allerhand Interessantes über einheimische Wildtiere. Ebenfalls ist es möglich, einen Tag einen Wildtierpfleger bei seiner Arbeit zu begleiten, und natürlich auch tatkräftig mithelfen. jgr
Pate werden
Die Aufzucht von verwaisten Jungtieren bedarf einer grossen Menge an unterschiedlichen Futtermitteln, Materialien und Ausstattungsgegenständen. Schliesslich müssen die Patienten und Pfleglinge der Wildstation Landshut in Utzenstorf artgerecht und ihren jeweiligen Bedürfnissen entsprechend untergebracht werden, damit sie optimal auf eine Auswilderung vorbereitet werden. Eine Patenschaft hilft, die Versorgung der Pfleglinge mit Medikamenten und Futtermitteln sicherzustellen. Die Patenschaft dauert ein Jahr. Die Gotte oder der Götti erhält eine Urkunde, mit Bild eines Pfleglings der ausgewählten Tierart und den Informationen zu ihr. Jährlich findet Mitte Juni ein Patentag statt. Dann führen die Mitarbeitenden der Wildstation die Gäste durch die Anlage und bieten einen exklusiven Blick hinter die Kulissen. Übrigens, eine Patenschaft eignet sich auch als Geschenk. jgr






