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«Vor mir stürzt die Leitstute»

Der Förderverein Sbrinz-Route organisiert jährlich eine spezielle Wanderwoche mit einem historischen Saumzug. Redaktorin Anja Tschannen war mit ihrem Freibergerpferd Teil des Saumzuges und berichtet in ihrem Blogtagebuch über die Erlebnisse auf der 150 Kilometer langen Sbrinz-Route von Stansstad NW bis nach Domodossola (I).

Anja Tschannen |

 

 

Der Förderverein Sbrinz-Route organisiert jährlich eine spezielle Wanderwoche mit einem historischen Saumzug. Redaktorin Anja Tschannen war mit ihrem Freibergerpferd Teil des Saumzuges und berichtet in ihrem Blogtagebuch über die Erlebnisse auf der 150 Kilometer langen Sbrinz-Route von Stansstad NW bis nach Domodossola (I).

Noch mit geschlossenen Augen, strecke ich vorsichtig meine Zehen unter der Bettdecke, einen nach dem anderen, spanne die Fussmuskulatur an und lasse sie wieder locker. Links und rechts schmerzt es. Alles schmerzt – Zehen, Füsse, Muskeln, Sehnen, Bänder.

Die Etappe über den Grimsel hat mir und meinen Füssen zugesetzt. «Boah, ich habe ja so absolut keine Lust auf einen verdammten Berg hochzukraxeln und überhaupt, wer hatte die fabulöse Idee, 150 Kilometer von der Schweiz nach Italien zu marschieren?», meldet sich eine äusserst miesepetrige Stimme in meinem Kopf. 

Der dritte Pass steht bevor

Ich ziehe mich an, packe meine Sachen. Das Schlimmste: die schmerzenden Füsse wieder in die Wanderschuhe zu stecken. Diese sind nämlich von unseren gestrigen Abenteuern immer noch feucht. Ein paar Minuten und eine warme Tasse Caotina später sieht die Welt schon viel schöner aus. Der Blutzuckerspiegel ist stabil, die Abenteuerlust nimmt überhand.

Vorbei an alten Walliserhäusern steigen wir zu den tiefen Tönen eines einsamen Alphornes und dem Rauschen der Rhone vom Tal auf in die Bergwelt. Den dritten und letzten Pass gilt es zu bewältigen: den Griespass. Diese Etappe gilt als herausfordernd, befinden wir uns doch schlussendlich in alpinem Gebiet. Ausserdem wartet eine ehrenvolle Aufgabe auf uns. Wir eröffnen heute offiziell einen neuen Wegabschnitt, da der alte aufgrund Steinschlaggefahr nicht mehr begehbar ist. 

Wir nehmen sechs Käselaiber mit

Von Weitem sehen wir ihn, einen engen Säumerpfad, der sich am Abhang des Gesteins entlangzieht. Die feine Linie des Weges sieht aus wie durch einen Erdrutsch entstanden. Das ist sicher der neue Säumerweg. Hoffentlich nicht. Doch rund eine halbe Stunde später stehen wir am Fusse der vermeintlichen Säumerpfades.

Und wir sind nicht alleine. Bauherren. Gemeinderat und Journalisten sind vor Ort. Nach einer kleinen Ansprache werden die sechs Käselaibe – einer wiegt mit dem Aufbindegestell zwischen 35 bis 40 kg- auf drei Saumtiere gebunden. Haydo trägt keinen Käse, dafür die Cervelats für den gesamten Säumerzug, denn heute Mittag wird grilliert.

Die Leitstute des Saumzuges und auch Andis Freiberger Vipee, der direkt hinter uns läuft, erhalten je zwei Käselaibe aufgeschnallt. Die Käselaibe sollen symbolisch auf dem Rücken der Saumtiere über den neuen Weg und von der Schweiz über den Griespass nach Italien transportiert werden, wie früher halt.

Vor uns ein Morastfeld

Mit mulmigem Gefühl und trotzdem voller Neugierde laufe ich los. Vor mir Tanya mit ihrem Minishetty und an der Spitze die mit Käselaiben beladene Leitstute und ihre Stallgenossin. Hinter uns Andi mit Vipee, gefolgt von Simon und Stefan mit Maultier Giorgio und der Rest des Saumzuges inklusive Wanderer. 

Wir biegen in die nächste Kurve ein. Vor uns ein steiler Hang. Auf den ersten Blick sieht es aus wie ein grosses Morastfeld, dass es zu erklimmen gilt. Was wir zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen: Die Schlammschicht beträgt nur einige Zentimeter, darunter befindet sich eine einzige grosse Felsplatte.

Die Leitstute kämpft

Wir stehen unten an der Felsplatte. Oben kämpft sich die Leitstute vorwärts, sie hat grosse Mühe, die Eisen finden auf der nassen Felsplatte einfach keinen Halt. Noch drei, vier Schritte und die kritische Stelle ist überwunden.

Die tapfere Haflingerstute kommt ins Straucheln, versucht mit einer Rückwärtsbewegung ihr Gleichgewicht zu erlangen. Und dann passiert es. Das Gewicht der Käselaibe und des Bastsattels nimmt Überhand. Wie in Zeitlupe und doch rasend schnell. 

Rückwärts den Hang hinunter

Ich stehe völlig erstarrt da, fixiere die Felswand, fasse Haydos Zügel enger. Reto, ein erfahrener Säumer, muss die Zügel seines Tieres loslassen, er kann nichts mehr tun. Auf der steilen Felsplatte wird die Leitstute rückwärts auf den Rücken gerissen, überschlägt sich.

Beim ersten Aufprall löst sich ein Teil der Ladung. Auch Patrick, der zweite Säumer, muss seine Stute loslassen. Ich höre Reto oben fluchen. Vor mir versucht Tanya mit Tina an der Hand die freilaufende Stute zu fassen und aus der Schusslinie des fallenden Leitieres zu zerren. 

Ein wildes Durcheinander 

Der Plan scheint aufzugehen. Doch die fallende Leitstute überschlägt sich weiter, mit direktem Kurs auf meine Kollegin, ihr Minishetty und die zweite Haflingerstute. Alle drei werden von der trohlenden Leitstute auf die Seite geschleudert. Ein wildes Durcheinander von Pferdebeinen und Führstricken.

Tanya wird auf den Rücken geworfen. Landet im Getrübt. Ein paar Meter unter ihr wird auch die Leitstute von den Sträuchern aufgefangen und bleibt regungslos liegen. Jegliches Gefühl für Zeit und Raum ist verschwunden. Doch es sind wohl nur Millisekunden gewesen. 

"Bitte steh auf"

Tausend Gedanken rasen durch meinen Kopf. Wie geht es Tanya? Halten die Sträuche? Und wie lange halten sie? «Du musst aufstehen, Tanya, steh auf!», ist das meine Stimme oder rufen die anderen Säumer diese Aufforderung? Ich weiss es nicht.

Tanya hebt den Kopf. In dem Durcheinander aus fallenden Pferden, Sträuchern und Ponybeinen war ich für einen Moment nicht sicher, ob sie von den Hufen des zweiten Pferdes getroffen wurde oder nicht. Die Last von tausend gelebten Toden fällt von mir ab. 

Wir sind nicht in Sicherheit

Gleichzeitig weiss ich, es ist nicht vorbei. Wir sind nicht in Sicherheit. Mit Haydo an der Hand, stehe ich an einem verdammten Berghang. Vor mir eine scheinbar unüberwindbare Felsplatte. Links von mir die drei vorangegangenen Saumtiere im Gestrüpp, Ladungen am Boden, pferdelose Säumer, die den Hang hinuntereilen. Den ersten Impuls, zu Tanya zu eilen und zu schauen, wie es ihr geht, unterdrücke ich. Ich weiss in einigen Sekunden sind die Mitsäumer bei ihr und ich weiss, unter keinen Umständen darf ich Haydo jetzt loslassen.

Vor uns die Felsplatte, hinter uns der Saumzug und die Wanderer. Ein einziger enger Weg. Umkehren undenkbar. Es gibt nur einen Weg. Nach vorne. Über die Felsplatte weiter hinauf.  

Panisch laufe ich los

Weisst du, wie sich nackte Angst anfühlt? Ich laufe los. Ich muss los, damit unter den übrigen Saumtieren und Säumern keine Panik ausbricht. Eigentlich sollte man nämlich niemals stehen bleiben. «In einem Zug durchlaufen», hat mir die Frau neben dem Baumeister gesagt. Und ich laufe. Panisch. Voller Angst. In einem Zug. 

An der obersten Stelle gerate ich ins Straucheln, beginne zu rutschen. Mein Herzschlag dröhnt in meinen Ohren, stockend schnappe ich nach Luft, beginne zu zittern. Du darfst nicht fallen. Nicht fallen! 

"Hilf mir"

Nur noch drei, vier Schritte und wir sind in Sicherheit. Doch meine Füsse finden in dem Morast keinen Halt. Kommen nicht vorwärts. Beginnen zu rutschen. Oberhalb von mir steht Daniel, ich strecke meinen linken Arm aus. «Hilf mir», ob ich es sage oder nur laut denke, weiss ich nicht mehr. Er zieht mich hoch. Meine Füsse finden wieder Halt. Zwei, dreimal stosse ich mich kräftig ab. 

Die Felsplatte ist überwunden. Ich ziehe noch etwas vor, bleibe stehen. Hinter mir folgen Andi und Vipee. Wir sind die Ersten und Einzigen, die sich jetzt oberhalb der Unglücksstelle befinden. Die einzigen ausser unserem guten Wanderkollegen und Fotografen Kobi. Er hat von dem ganzen Trubel nichts mitbekommen. Wie auch, über unseren Köpfen knattert der Motor des Baggers, zwei Arbeiter sind damit beschäftigt, den Weg fertigzustellen, den Weg, den wir gerade eröffnen.  Nachdem der Bagger abgestellt, Kobi zur Hilfe nach unten gerufen wurde, warten wir. 

Wo bleiben die Anderen?

Der Adrenalinschub und die Angst lässt mir die Tränen in die Augen schiessen. Ich wähle zitternd die Nummer meines Lebenspartners. «Ich brauche deinen Zuspruch», krächze ich, bevor ich zu schluchzen beginne. Innerhalb ein paar Minuten hat er mich mental wieder so weit aufgebaut, dass ich zwar weinend, aber fokussiert im Morast stehe: Unfallfrei auf sicheren Untergrund gelangen, ist das Ziel. Meine Nervosität überträgt sich auf Haydo und auch Vipee wird unruhig. Sie beginnen zu wiehern. Denn die übrigen Saumtiere folgen nicht nach. 

Andi und ich haben keine Ahnung, was unterhalb von uns geschieht und die Hoffnung auf einen besseren Weg hat sich nach dem Erklimmen der Felsplatte und angesichts der Baumaschine und vor allem des Weges in Luft aufgelöst. Wir müssen weiter. Uns aus unserer gefährlichen Lage befreien. Wir sprechen uns ab. Ich laufe los. Hinter mir spüre ich den warmen Atem meines Pferdes. Seinen starken Körper. Ich fühle mich schuldig, ihn in eine solche Situation geführt zu haben.  Dieses Pferd, das in dieser äusserst prekären Situation keinen falschen Tritt macht und mir in meiner grössten Angst vertrauensvoll hinterherläuft. 

Auf das Schlimmste gefasst

Der Weg wird nicht besser. Vor uns eine ultraenge Felsplatte, die als Brücke gedacht ist. Viel zu eng denke ich. Ich getraue mich nicht rüber. Haydo reagiert sofort auf mein Zögern und will auch nicht mehr vorwärts. Ich ziehe am Zügel. Sein Hals wird nur länger, die Vorderbeine in den Boden gestampft. Ich muss mich zusammenreissen. Andi treibt Haydo von hinten an. 

Wie in Trance bewältige ich die enge Brücke. Stets auf das Schlimmste gefasst. Resigniert. Wir müssen weiter, immer weiter, bis wir oben sind. Vor uns wartet die zweite und letzte Felsplatten-Brücke. 

Vier Tiere sind gestürzt 

Endlich kommen wir an eine sicherere Stelle. Wir setzten uns hin und warten. Wie lange? Keine Ahnung. Langsam trudeln Tanya und Tina, Stephan und Simon mit Georgio – auch sie sind gestürzt – die beiden Haflingerstuten mit Reto und Patrick ein. Alle sind sie da, alle leben. 

Im Nachhinein erfahre ich, dass insgesamt vier Saumtiere gestürzt sind, dass niemand ernsthaft dabei verletzt wurde, dass die Saumtiere abgesattelt und die schweren Lasten von unseren hilfsbereiten Wanderern über die kritische Stelle geschleppt wurden. Das Schlimmste scheinen wir nun überstanden zu haben. Via Handy gebe ich zu Hause Entwarnung. Stütze meinen Kopf erschöpft an Haydo. Stirn an Stirn am Berghang. 

Meine Tränen versickern in seinem schwarzen Fell.  Nach einem Schlücklein Schnaps schalten meine panischen Hirnzellen einen Gang runter, ich werde klarer im Kopf. Die letzte Etappe, bevor wir wieder eine richtige Strasse  – wie ironisch, erst gestern noch habe ich asphaltierte Strassen verflucht- unter den Hufen haben, laufen Haydo und ich an erster Stelle, direkt hinter Daniel Flüehler. Stur schaue ich auf seine Fersen, setze Fuss vor Fuss. Konzentriert. Fokussiert. Zügig und versuche so meine eigene Angst zu dämmen. 

Verkorkste Freaks

Was wir hier machen ist kein Sonntagsspaziergang. Wir befinden uns auf den uralten Spuren unserer Vorfahren, die trotz der Gefahr, das Leben ihres Saumtieres und ihr eigenes Leben zu riskieren, Handelswaren über die gefährlichen Säumerwege der Alpenpässe transportierten.

Sie taten es aus wirtschaftlichen Gründen zum Überleben – das Leben riskieren um zu überleben, ziemlich widersprüchlich, nicht wahr? – wir aus reinem Freizeitvergnügen, des Abenteuers willen. Was für verkorkste Freaks sind wir eigentlich?

Vorwurfsvolle Blicke

In einer der letzten Kurven des Säumerweges stehen sie. Die Baustellenleiter. Sie müssen unseren Kampf auf der Felsplatte von unten mitverfolgt haben. Zwei Gefühle überrennen mich. Zorn, denn immerhin haben sie den Weg freigegeben und uns in eine solche Situation gebracht – und um aus meiner Angst zu kommen, braucht der schwache Teil in mir nun einen oder mehrere Schuldige, die ich verantwortlich machen kann. Und das zweite Gefühl: Respekt. 

Ich weiss nicht, ob ich in ihrer Situation die Grösse hätte, hinzustehen und unsere vorwurfsvollen, stummen Blicke zu ertragen. «Ja, der Weg ist noch ausbesserungsfähig», höre ich Andi hinter mir zu ihnen scherzen. Während ich trotzig, mit dem vorwurfvollsten aller vorwurfvollen Blicke vorbei stampfe. «Andis Coolness möchte ich auch haben», fährt es mir durch den Kopf, als ich über seine Worte nachdenke. Und im Nachhinein schäme ich mich für mein trotziges Verhalten, den Bauleitern gegenüber. Sie müssen sich auch ohne den vorwurfsvollsten aller vorwurfsvollen Blicke bereits hundsmiserabel gefühlt haben. Aber im Moment überwiegt der kindische Teil in mir, zu präsent ist das Erlebte. Zu gross die Angst.

Nerven liegen blank

Noch nie war ich so dankbar, Asphalt unter meinen Füssen zu spüren, wie jetzt. «Wir haben es geschafft», flüstert Tanya, weinend liegen wir uns in den Armen. Das war ein verdammt harter und emotionaler Aufstieg. Nachdem sich die Gemüter etwas beruhigt hatten, die Saumtiere getränkt und die Schnapsflaschen herumgereicht wurden, wage ich einen Blick in die Umgebung. 

Ich bin betroffen von der rauen Schönheit des Griespasses. Vom Gletscher. Dem Stausee, den Blumen, die in ihrer kurzen Vegetationszeit aufblühen, den riesigen Windrädern, den Weiten dieser wilden Berglandschaft und dem Tal, das tief unter uns liegt. Noch gut 30 Minuten bis zu unserem Mittagshalt. Im Zeitplan liegen wir schon lange nicht mehr. Zweimal muss der Saumzug auf der kurzen Strecke zur langersehnten Rast, halten. Zweimal sind Pickel und helfende Hände gefragt. Zweimal liegen meine Nerven blank. 

Über die grüne Grenze

Es gibt durchaus angenehmere Warteplätze als ein enger Saumpfad mit dem Abgrund zur rechten Seite. Den Kopf des Saumtieres Richtung Abgrund drehen, heisst es – so tritt es mit der Hinterhand nicht versehentlich aus dem Weg und stürzt ab. Ich blinzle aus zusammengekniffenen Augenlidern hervor, während ich, Haydos Hals um mich, Richtung Gletschersee drehe und warte. Eine mächtige, eindrucksvolle Gegend. 

Einmal muss der Säumerpfad von Schlamm und Geröll und das zweite Mal von Schnee befreit werden. Logisch schlägt das Herz beim anschliessenden Durchqueren der geflickten Wege schneller. Dann ist es so weit, zu Fuss marschieren wir am Grenzstein Schweiz-Italien vorbei. Irgendwie bin ich noch gar nicht richtig bei mir. Der Grenzübertritt zieht fast emotionslos an mir vorbei. Ich will nur noch beim Mittagsrastplatz ankommen. Schnell und sicher.

Mittag in der Wildniss 

Endlich, mit über einer Stunde Verspätung erreichen wir den Mittagshalt. Eine Traum- Location. Mitten im Gebirge. Den Gletscher und die Bergspitzen im Visier. Ein Feuer knistert.  Zwei erfahrene Säumer haben, notabene über eine andere Route, das nötige Material nach oben transportiert, denn unser Rastplatz ist nicht mit Fahrzeugen erreichbar.

Wir sind völlig abgeschottet. Die Saumtiere werden mit Heu gefüttert, das wir als Oberlasten mitgenommen haben. Ich packe die Cervelats aus Haydos Seitenlasten und bringe sie zur Feuerstelle. Bratkäse und ein kleines, feines Dessertbuffet warten und wir können endlich tief durchatmen. Reine, frische, unberührte Bergluft.

Ich treffe einen Entschluss

Während sich meine nackten Zehen in die feuchte, warme Erde der Gebirgsebene bohren, der Gletscher in der Ferne weiss und mahnend daliegt und meine Zähne das Brot mit dem warmen Bratkäse zu einer einheitlichen Masse zerkauen, fasse ich auf 2400 Meter einen elementaren Entschluss für den weiteren Verlauf meiner Sbrinz-Route: Ich lasse nicht zu, dass eine Sunde voller Angst, all die bisherigen Stunden voller guter Erlebnisse, Kameradschaft, voller Magie, voller Abenteuer, Lachen, hart erkämpften unglaublichen Eindrücken und all die noch folgenden Momente, versauen wird. Ich werde meine Sbrinz-Route nicht so abschliessen. 

Unser persönliches Glück liegt ganz alleine in unseren Händen. Hängt davon ab, ob wir die Verantwortung für unser Leben übernehmen. Und dazu gehört auch die Verantwortung für unsere Gedanken. Wir entscheiden, welche Gedanken wir mitnehmen, welche Gedanken wir dominieren lassen, auf welche Gedanken wir hören und nach welchen Gedanken wir handeln. 

Angst vor dem Abstieg

Schon nach kurzer Zeit muss ich meine Philosophiererei mitten auf der Hochebene des Griessgebietes  – hier wo die Natur unmissverständlich zu verstehen gibt, wer das Sagen hat und es auch immer haben wird – unterbrechen. Viel zu schnell geht die Mittagspause vorbei. Am liebsten wäre ich den ganzen Nachmittag hiergeblieben. Hätte mich erholt, philosophiert, geträumt und vielleicht sogar einen Moment die Augen geschlossen.

Aber ich kann mich nicht drücken. Der Abstieg steht bevor. Wiederum geht es los ins Ungewisse. Ich denke an den Satz, den ich schon öfters gelesen habe: Mutig sein heisst nicht, keine Angst zu haben, sondern trotz der Angst weiter zu gehen. Trotzdem. «Ich will gar nicht mutig sein», meldet sich die Stimme in meinem Kopf.

Ein Stein löst sich

«Genügend Abstand halten. Die Wanderer laufen unter keinen Umständen vor den Saumtieren. Manchmal lösen sich durch die Hufe der Tiere Steine und rollen nach unten», ermahnt Daniel. «Konzentriert euch». 

Der Boden ist gut, sandig und griffig, zum Glück regnet es nicht. Wir laufen schon eine ganze Weile. Plötzliches Geschrei oberhalb von mir. «Achtung Stein». Tschiumm. Ehe ich mich versehe, pfeift vor uns ein faustgrosser Stein in vollem Tempo über den Weg. Er wurde oberhalb von uns losgetreten. Der Weg wird flacher.

"Ohhh, piccoli cavalli"

Mir kommt es vor wie eine Ewigkeit, als wir endlich die erste Ebene erreichen. Und wir werden bereits freudig erwartet. Hier irgendwo im nirgendwo. Wo zahlreiche Murmeltiere auf dem Talboden pfeifen. Sich ein brauner Fluss durchschlängelt und zuvorderst eine Milchviehherde auf das abendliche Melken wartet, stehen italienische Wanderer und freuen sich. Über uns. Die Kinder kommen näher. Minishetty Tina ist sofort der Star der Bande. Ich werfe einen Blick zurück Richtung Griesspass. Still und mächtig, unberührt von meinem Gefühlschaos ruhen die uralten Felsen. Der riesige Gesteinswalm trennt die Schweiz von Italien und umrahmt den Talboden auf dem wir stehen, von hinten.

«Ohhhh, piccoli cavalli», die italienischen Kinder drängen sich um unsere Saumtiere. Wir setzten unseren Weg durch Murmeltier-City Richtung Stausee fort. Die Kids im Schlepptau. 

Festlicher Empfang

Wie sie sich freuen, die Italiener. Die kleine Ortschaft Riale bereitet uns einen bunten, lustigen und herzlichen Empfang. Mit Folklore-Tanzeinlagen. Nach einer langen, emotional beschwerlichen Wanderetappe treffen wir verspätet, verschwitzt, müde und vor allem unverletzt in Riale ein. Wir stellen uns mit den Saumtieren im Halbkreis auf. Ich fasse Haydo und Vipee je am Backenstück, stehe zwischen den beiden Freibergern. Und verfolge die Tanzeinlagen der Kinder, die kurz darauf durch die Choreografie der Erwachsenen abgelöst wird. Es wird getanzt, musiziert, gesungen, gelacht und im Rhythmus der Melodie geklatscht.

Kurz  nach Mitternacht ziehe ich mir die Bettdecke zu den Ohren. Ich versuche Ordnung in das Chaos zu bringen, normalerweise hilft schreiben dabei. Das ist jetzt aber nicht möglich. Es rattert und rattert, bis ich meine wirren Gedanken einigermassen geordnet und die Gefühle reflektiert betrachtet habe. 

Tausend Schutzengel

Fakt ist für mich: Dass es eine fahrlässige Entscheidung war, einen Weg mit einer so grossen Gruppe, unter denen, wie ich, einige Säumeranfänger mitliefen, zu eröffnen. Ein Weg, der erstens noch nicht fertig ist und zweitens nie von erfahrenen Säumern und Saumtieren erkundet wurde. Ich glaube aber nicht, dass es irgendjemanden weiterbringt, wenn der Teufel mit den Worten wenn, hätte oder könnte, an die Wand gemalt wird.

Fakt ist nämlich auch, dass trotz vier Stürzen und einigen Schrammen schlussendlich keine Menschen oder Tiere ernsthaft zu Schaden kamen. Wir hatten wohl tausend Schutzengel an diesem Tag, der Schock sitzt tief, die Angst ist präsent und das Risiko einer Säumerwanderung hat für jeden von uns ein Gesicht bekommen. Wir hatten grosses Glück.

Schlussendlich war es eine Verknüpfung unglücklicher Entscheidungen, die uns in diese Situation manövriert hat. Entscheidungen, die falsch waren. Entscheidungen, die gefährlich waren. Aber überall, wo Entscheidungen getroffen werden, können sich eben Fehler einschleichen, können Überlegungen vergessen gehen, kann man sich zu schnell auf vorherigen Erfahrungen ausruhen.

Und ich bin mehr als überzeugt davon, dass es jedem, der in diesen Entscheidungsprozess involviert war, von Herzen leid tut. Dass sie sich schuldig und schlecht fühlen. Dass so etwas niemals mehr vorkommt. Dass der Warnschuss ernst genommen und bei jeder folgenden Durchführung penibel berücksichtigt wird.

Diese Situation am Griespass hat mich aus meiner ganz persönlichen Komfortzone gerissen. Hat mich in eine Lage katapultiert, in der ich weit über meine Grenzen hinausgehen musste. Körperlich und vor allem mental. In der ich mich mit meinen grössten Ängsten konfrontiert sah. In der ich mich in einer völlig unbekannten und unerwarteten Situation neu erleben musste und auch durfte. Nach der plötzlich ganz viele elementrare Lebensfragen von einer anderen Seite, aus einer anderen Perspektive, betrachtet werden. 

Ich liege noch lange wach. Bin gedanklich auf dem Griespass. Vor meinem inneren Auge trohlt die Haflingerstute. Krachend löst sich der Käse. Sie trohlt und trohlt und trohlt. Ich falle in einen schwarzen, traumlosen Schlaf.

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