Als Gabi Schürch-Wyss an einem Medienanlass des Bauernverbands ihre Betriebszahlen offenlegte, erntete sie dafür in den Kommentarspalten diverser Medien eine Menge Kritik. Das sei auch deswegen, weil landwirtschaftliche und nicht landwirtschaftliche Bevölkerung aneinander vorbeireden würden.
Das sagt die Agrarsoziologin Sandra Contzen in einem Interview mit der Zeitung «Der Bund». Contzen ist Expertin für die Lebensbedingungen von Bauernfamilien. Sie arbeitet an der Hochschule für Agrar-, Forst- und Lebensmittelwissenschaften (Hafl) in Zollikofen.
Als Umweltsünder beschuldigt
Aber: «Der Stadt-Land-Graben wird gerne grösser dargestellt, als er ist», meint Contzen zur gesamten Debatte. Als Beispiel nennt sie die Agrarabstimmungen, bei denen es im Vorfeld oft zu einem Schlagabtausch komme: «Landwirtinnen und Landwirte werden als Umweltsünder beschuldigt, die das Wasser vergiften und die Biodiversität zerstören.
Und die Nicht-Bäuerlichen werden beschimpft, keine Ahnung zu haben, aber der Landwirtschaft alles vorschreiben zu wollen. Aber wenn wir dann die Resultate der Abstimmungen anschauen, dann sehen wir, dass die Bäuerinnen und Bauern praktisch jedes Mal gewinnen. Das heisst, die Mehrheit der Stimmbevölkerung steht hinter ihnen.»
Der Stadt-Land-Graben werden grösser dargestellt, als er ist, sagt die Agrarsoziologin Sandra Contzen.
Cornelia Forrer
Auto und Wolf
Der Stadt-Land-Graben würde aber in Debatten im Voraus von Abstimmungen gemäss Contzen auch gerne grösser dargestellt, als er ist, um daraus politisches Kapital zu schlagen. Und trotzdem gibt es sie, die Differenzen: «Bei politischen Abstimmungen sieht man ja tatsächlich Unterschiede. Auch bei den Präferenzen für Parteien gibt es eindeutige Trends: Auf dem Land wählt man eher rechte Parteien, in der Stadt tendenziell linke», erklärt Contzen im «Der Bund».
Angesprochen auf die Streitpunkte zwischen Stadt und Land – Auto und Wolf – sagt die Agrarsoziologin, Letzteres mache der bäuerlichen Bevölkerung tatsächlich Angst. Und sie gibt etwas Nachhilfe in Geografie: «Wer im Emmental im hintersten Winkel wohnt, kann sich nicht ohne Auto von A nach B bewegen.»
Am Wochenende arbeiten
Der Grund für der Heftigkeit der aktuellen Diskussionen über die Löhne von Bäuerinnen und Bauern liegt gemäss Contzen gewissen Missverständnissen zugrunde: nämlich dem verzerrten Bild, das die Stadt vom Land und umgekehrt hat.
«Der Bund» fragt bei der Expertin nach, welche Missverständnisse es denn auf dem Land gegenüber der Stadt gebe. «Von meinen Studierenden oder in Gesprächen mit Bäuerinnen und Bauern höre ich Aussagen wie: ‹Wir sind die Einzigen, die auch am Wochenende arbeiten müssen.› Ich erkläre den Studierenden dann, dass zum Beispiel auch Pflegefachpersonen Sonntags- und Nachtdienste haben», erzählt die Agrarsoziologin, die selbst nicht auf einem landwirtschaftlichen Betrieb aufgewachsen ist, aber seit über 20 Jahren auf dem Gebiet arbeitet.
Geranien vor den Fenstern
Ein weiteres Missverständnis: Ein Teil der nicht landwirtschaftlichen Bevölkerung glaubt, auf dem Land sei die Welt noch in Ordnung. «Hinter den idyllischen Fassaden der Bauernhöfe mit Geranien vor den Fenstern gibt es auch Probleme. Die Arbeit ist hart, und in manchen Fällen reicht es kaum zum Leben. Dazu kommen vielleicht Konflikte zwischen den verschiedenen Generationen, die unter einem Dach leben. Oder Streit zwischen den Paaren, die im Betrieb zusammenarbeiten», erklärt Contzen im Interview mit «Der Bund».
Kommunikation sei daher das Wichtigste. Das lernten die Studierenden an der Hafl und dies gelte sowohl für einen funktionierenden Familienbetrieb als auch für eine Gesellschaft. «Die Menschen müssten einander zuhören und versuchen, die jeweils andere Lebensrealität zu verstehen», wie Contzen sagt. So könne man gut miteinander umgehen, auch wenn man vielleicht völlig unterschiedliche politische Ansichten habe.
Haustür in der Stadt ober Quartierbrunch am 1. August für Landleute wären so erste Ideen.