Die Website der Gemeinde Blatten war am Mittwoch noch aktuell . Am Donnerstag, nach dem immensen Bergsturz, ist sie zu einem Zeitzeugen einer untergegangenen Welt geworden.
Zusammenhalt grösser
In der Strategie 2024, die sich das Bergdorf selbst gab, stehen drei Ziele: «Blatten ist eine attraktive Wohngemeinde. Blatten ist ein Tourismusort voller Energie. Blatten ist ein starkes Team.» Die zwei ersten Ziele sind auf Jahre hinaus verunmöglicht, der Fokus muss jetzt, in dieser Krise, beim dritten Ziel sein. Helfen wird, dass wie überall im Berggebiet und fast überall auf dem Land, der Zusammenhalt im Lötschental grösser ist als in einer Agglomerationsgemeinde, wo viele Leute zufällig landen, weil sie gerade dort eine passende Wohnung fanden.
Im Lötschental lebt niemand zufällig. Gleichzeitig liegt gerade darin eine zusätzliche Tragik, eine zusätzliche Schwere. Die meisten Leute dort lebten in historischen Häusern, viele im Elternhaus, in starken Nachbarschaften. Darum haben sie noch mehr verloren als jemand, der fast anonym in einer Wohnung in einem der neuen rechteckigen, gesichts- und geschichtslosen Mehrfamilienhäuser gelebt hat. Darum wird die Trauer über den Verlust enorm sein.
Traum begraben
Auch für fromme Leute, von denen es im bis heute katholisch geprägten Lötschental einige gibt, die sagen können «Gott hat gegeben, Gott hat genommen» und die sagen können, die wahre Welt ist die geistige Welt und das Jenseits, ist der plötzliche Verlust von allem Hab und Gut (die Menschen hatten nur 15 Minuten Zeit für die Evakuation) ein Ereignis, das die Seele schwer erschüttert. Es ist nur menschlich und völlig verständlich, dass man am Materiellen und vor allem am Gewohnten hängt.
So Blatten vor dem Bergsturz aus. Blatten ist das hinterste Dorf im Lötschental. Das Hauptdorf der flächenmässig grössten Gemeinde des Lötschentales liegt auf 1‘540 m. ü. M. Zur Gemeinde gehören die Weiler Eisten, Ried und Weissenried.
Gemeinde Blatten
Auf der Website der Gemeinde Blatten findet man etwa das Baugesuch einer Frau, die auf Fliäbebm/Brunnmattä ein neues Einfamilienhaus bauen wollte. Dieser Fleck wurde nicht verschüttet von den Geröllmassen, aber dort bildet sich jetzt wegen der Lonza ein See. Und erreichbar ist der Fleck auch nicht. Ein Traum mehr, der begraben werden muss an dieser Stelle. Anderswo wird aber Bauland noch teurer sein.
Geschäft zerstört
Erst recht viel verloren haben diejenigen Leute, die in Blatten ihr eigenes Geschäft hatten, für das sie jahrzehntelang mehr gearbeitet haben als andere in einem Bürojob von 9 bis 17 Uhr. Alle voran die Landwirte und die Gewerbler. Da ist etwa Dani’s Lamm, der Biobetrieb von Daniel und Katrin Ritler, der im Jahr 2012 für den Agropreis nominiert gewesen ist und den Leserpreis der Medienpartner «Schweizer Bauer» und «Terre Natur» gewonnen hat.
🔴 Effroyables images depuis la Suisse, tournées ce mercredi après-midi… Des millions de mètres cubes de glace et de roche viennent de détruire le village (évacué) de Blatten [CH], dans le Valais…🇨🇭(©PomonaMedia) pic.twitter.com/BCxH7ywv5T
— Météo Franc-Comtoise (@MeteoFrComtoise) May 28, 2025
Auf dessen Website steht: «Auf den hintersten Alpen im wildromantischen Walliser Lötschental betreiben wir unsere Schafzucht nach Bio-Suisse-Standards.» Ja, die Berge sind in engen Tälern wie dem Lötschental so eindrücklich und die Natur ist oft weniger überbaut als anderswo, sodass es Einheimische und Touristen anziehend finden. Jetzt aber haben sich das Nesthorn und der Birchgletscher als wild und nicht als romantisch erwiesen.
Von Geröll überschüttet
Daniel Ritler ist im Lötschental aufgewachsen und ist nach einigen Jahren in Bern wie viele andere Walliser bewusst dorthin zurückgekehrt und hat sich eine Schafhaltung aufgebaut. Seine Frau kommt aus Österreich und hat, sicher fasziniert von der Bergwelt, in den 1990er Jahren zuerst Arbeit in der Lötschentaler Gastronomie gefunden. Dank der Evakuation der Behörden haben sie und ihre Schafe überlebt, aber ihr Leben ist jetzt ein ganz anderes. Eine Animation auf 20min.ch zeigt, dass ihr Betriebsstandort von vielen Metern Geröll überschüttet ist, und zwar von so vielen Metern, dass nicht damit gerechnet werden darf, dass alles wieder weggeräumt wird.
Der Betrieb Dani’s Lamm lieferte Lammfleisch unter anderem in das Hotel Nest- und Bietschhorn in Blatten. Das Hotel gewann zusammen mit anderen lokalen Betrieben im Jahr 2018 beim Prix Montagne den Publikumspreis. Und zwar für ihre Kooperation, die damals wie folgt umschrieben wurde: «Heute ist die Zusammenarbeit eingespielt: Esther Bellwald vom ‹Nest- und Bietschhorn› kümmert sich um die Kommunikation, hat die neue Website auf die Beine gestellt und betreut den Social-Media-Auftritt. Brigitte Lehner vom ‹Breithorn› übernimmt viele administrative Arbeiten und Lukas Kalbermatten vom ‹Edelweiss› bringt seine Erfahrung und sein Wissen vor allem bei strategischen Entscheiden, der Erstellung von Konzepten und der Zusammenarbeit mit Behörden und Organisationen ein. Gemeinsam betreiben ‹Die Lötschentaler› zudem den Campingplatz und die Buvette auf der Fafleralp ganz hinten im Tal.»
Neue Existenz aufbauen
Auf der Website des Hotels Breithorn steht die Meldung, das Hotel sei geschlossen , man solle aber bitte mit Stornierungen abwarten, bei längeren Einschränkungen seien kurzfristige Annullierungen kostenlos möglich. Das zeigt, wie der Betrieb in der bereits schwierigen Lage von letzter Woche so viel vom Geschäft, das Arbeitsplätze schafft, zu retten versuchte. Und jetzt, nach dem Bergsturz, ist alles anders.
SPEECHLESS BEFORE / AFTER #BLATTEN
— Melaine Le Roy (@subfossilguy) May 28, 2025
The magnitude of destruction after the 3:24 pm collapse of Birch Glacier is immense! 😱
All the forest has been razed and the ice/wood/debris dammed the Lonza river 🌊
Some buildings of Blatten are buried 🏠
📷 Pomona pic.twitter.com/VU2hfJtE97
Auch die genannten Hotelunternehmerfamilien und ihre Angestellten müssen sich eine neue Existenz aufbauen. Immerhin sind in der Hotellerie und in der Gastronomie Fachkräfte gesucht, aber es ist dann vielleicht nicht mehr der eigene Betrieb, es ist nicht mehr dasselbe Team in den bestehenden Bekanntschaften und Freundschaften. Darum dürfte das im Schock über den plötzlichen Verlust im Moment nur ein kleiner Trost sein.
Der Bergsturz von Goldau im Jahr 1806 war noch grösser als dieser in Blatten. Er löste damals die erste schweizweite Spendensammlung aus. Vorher war diese Solidarität kleinräumiger und in den alten Ständen (Kantonen) verhaftet geblieben. Der Berner Historiker Christian Pfister und seine Schüler haben nachgewiesen, dass im 19. Jahrhundert die Naturkatastrophen und die nachfolgenden Sammelaktionen wichtig waren für die Herausbildung einer gesamtschweizerischen Identität und nationalen Zusammenhalts. Auch die schwer getroffenen Leute im Lötschental werden wieder schweizweite Solidarität nötig haben.
Der Link für die Spenden der Gemeinde Blatten:
https://www.blatten-vs.ch/